Roman
Ein Roman in fünf Teilen (Leseprobe) von Marco Furgler, in Bearbeitung.
Teil 1
Auf den Feldern des Daat
I
In der Nacht vor der Geburt war es still, nur keuchte ein eisiger Wind durch die Gassen der Siedlung hinab ins Tal, wo er über Felder schlich und die Stoppeln der abgeernteten Daatstauden kitzelte.
Der Stall stand am Rande der Siedlung: weit entfernt vom Zentrum und von den äussersten Hütten abgelegen war er hinter einer niedrigen Mauer einer Ruine an den steilsten Teil des Hügels angebaut. Dort stützte er sich auf breiten, dunklen, teils morschen Pfählen, die weit in die Tiefe ragten, und so schien er manchmal, sofern Wetter und Licht mitspielten, geradezu über dem Abgrund zu schweben.
Von aussen konnte man nur den kleinsten Teil des Stalles sehen. Das grosse Hinterzimmer nämlich lag höhlenartig in den Hang hineingebaut, damit die dichte Erde rundherum die Schmerzensschreie der gebärenden Frauen sowie der sterbenden Mütter verschluckte.
«Eines der Betten ist noch frei! Ein einziges!», rief der Oberste der Gelehrten der Geburtstechnik seinen Dienern zu, die auf sein Geheiss am Eingang des Stalls auf sein nächstes Wort gewartet hatten. «Kommt! Aber seid vorsichtig: Jedes Leben ist kostbar, auch das welkende.»
Diesen letzten Satz konnte er nicht oft genug wiederholen.
Die Diener hoben daraufhin die werdende Mutter auf einer Trage hoch und trugen sie durch die Tür ins Hinterzimmer.
In der Mitte des Raumes dort brannte ein Feuer, dessen Flammen wild aber rauchlos zuckten, und um das Feuer herum standen in einem weiten Kreis die zehn Betten, die grosse, verzerrte Schatten auf die mit Lehm verputzte, graue, ebenfalls ringförmige und sich über den Köpfen zu einer Kuppel schliessende Wand warfen.
Die junge Frau wurde auf das freie Bett gelegt, und als ihre Wehen einsetzten, wurde für sie gesorgt.
Sie war arm, diese Frau, und so musste sie zusammen mit den anderen mittellosen Weibern in diesem dreckigen und stinkenden Stall gebären. Es war ihr bekannt – sollte sie überhaupt die Geburt überleben, was in ihrem gegenwärtigen Zustand unwahrscheinlich war –, und es war ihr auch bewusst, dass sie ihr Kind nicht wird behalten können. Sie lag da auf den weichen Kissen und mit Schmerzen im Unterleib, überliess ihr Schicksal den Geburtstechnikern, und sprach im Fieber wieder und wieder zu sich selbst:
«Bald wird ein Kind geboren… Retter unserer Zeit… eine Königin wird geboren… bald wird ein Kind der Sippe geschenkt.»
Der Oberste war gerade mit zwei weiteren Dienern fleissig mit einer anderen Geburt beschäftigt, die bereits vierundzwanzig Tage andauerte und die, seinen Einschätzungen nach und der werdenden Mutter gleich, bald zu einem Ende gelangen würde. Sie hatten der Frau beide Beine abgetrennt, um für das grosse Kind Platz zu schaffen.
Jetzt schauten schon zwei Füsse aus dem Unterleib, fast so, als wüchsen dem Weibe neue Beine nach, und die Diener bagannen, auf Geheiss des Obersten, jeder an einem Bein zu ziehen, währenddessen der Oberste den sich windenden, an das Bett gebundenen und im Sterben liegenden Leib des Weibs festklammerte und mit all seiner Kraft an den Schultern auf das Bett niederdrückte.
Es war dies noch der leichte Teil der Geburt, soviel wusste er, der Oberste, obschon er in all den Jahren seines Dienstes keine einzige solch besondrer Art erlebt hatte. Das Schwierigste und Schlimmste nämlich ist der Kopf, dachte er. Doch bis es soweit ist, werden noch einige Stunden vergehen müssen.
Unterdessen bahnte sich draussen ein Sturm an, und schon bald trommelte der Regen auf das Dach des Vorzimmers und weichte zugleich die um den Stall liegende Erde auf.
«Zieht! Zieht! Zieht!», schrie der Oberste mit zusammengepressten Zähnen seinen Dienern zu, und diese zogen in rhythmischen Bewegungen an den Füssen des Kindes.
«Zieht! Zieht! Zieht!… Aber vorsichtig! – Nicht zu fest! Nicht zu fest!…» So arbeiteten die Gelehrten unnachgiebig, während der Regen auf das Dach des Vorzimmers hämmerte, bis plötzlich einer der beiden Diener dem Obersten zurief:
«Der Leib ist jetzt bis zum Hals durch, Herr!»
Der Oberste liess, sogleich er dies hörte, von der Frau ab, hob seine rechte Hand über sein Haupt, und er sah die beiden Diener an, die jetzt behutsam die Beine des Kindes auf das Bett legten.
«Genug für den Moment», sagte er, «gönnt euch eine Pause. Stärkt euch. Ihr werdet später all eure Kraft brauchen, wenn wir dies Kind lebendig auf die Welt bringen wollen.»
Daraufhin verschwanden die Diener ins Vorzimmer, wo sie sich des Wassers und des Brotes bedienten und sich verköstigten, und sie schlossen die Türe hinter sich. Der Oberste aber blieb bei der Frau an ihrem Bette stehn. Von oben sah er ihr ins Gesicht, blickte dabei in ihre flachen, leeren Augen. Sie atmete noch, die Mutter, auch schlug ihr Herz: er sah deutlich ihren Puls am Halse pochen. Ansonsten aber schien sie nicht mehr auf dieser Welt zu sein. … Der Oberste sah nun auf, und an der Wand zitterten die vier riesigen, langen, schmalen Schatten der strampelnden Beine und der fuchtelnden Arme des Kindes, die schon begannen, die Welt um sich herum zu betasten und zu studieren.
Als der Hagel kam und übers Land fegte, peitschten die Kügelchen aus Eis feinste Risse in die dünne Haut der Äcker, und sie drangen, wie aus eisernen Lanzen geschmiedet, tief in die Erde ein. Bald schon quoll es feucht aus den Tiefen hervor, dass der aufsteigende Lehm die Wunden abermals verklebte, als wäre nichts geschehen.
Am fünfundzwanzigsten Tage dann, im Morgengrauen, als sich der Dunst gelöst und die Wolken sich verzogen hatten, war nun endlich auch der Kopf draussen, und der Rest des Körpers – ein weiteres Paar Arme und Beine – flutschte ohne grosses Hinzutun der Gelehrten innert kürzester Zeit nach.
Das Neugeborene lag jetzt auf dem Steinboden, seine Haut von Blut und Schleim und Sand verklebt, in der Mitte der Höhle vor dem Feuer, wo es sich wärmte. Es lag in all seiner Grösse da, mit den Augen nach oben und zur Kuppel hin gerichtet, und es spreizte seine vier Arme und vier Beine weit vom Kopfe, dem Zentrum seines Körpers, ab.
Die Mutter war unterdessen dahingeschieden.
Man liess zwei warme Decken aus Daatwolle bringen, worin man das Kind einwickelte, so, dass nur noch der Kopf rausschaute. Zwei Diener trugen das Kind ins Vorzimmer und legten es zu einer tropfenden Kerze, die ruhig und beharrlich vor sich hinflackerte. Dem Kinde wurde Nahrung gegeben, um es zu stärken, und als es satt war, schlief es ein. –
Noch am selben Tage schickten sie nach dem Ältesten der Siedlung, auf dass dieser das Neugeborene salbe.
«Es liegt gleich hier, mein Herr», sagte der Diener, der vor dem Stall auf den Ältesten gewartet hatte, und er führte ihn hinein ins Vorzimmer.
Langsamen Schrittes näherte sich der alte Mann auf dem knarrenden Boden dem hilflosen Kinde, und als er in der Mitte des Raums im schummrigen Licht der Kerze vor dem Neugeborenen stehenblieb, da sah er von weit oben herab in seine zwei schlafenden Gesichter. Dann kniete er zu ihm nieder. Behutsam öffnete er die weissen Decken aus Daatwolle, entblöste das Kind, um seinen ganzen Körper zu betrachten.
«Wahrhaftig…», murmelte er vor sich hin, als er nun mit eigenen Augen sah, was ihm berichtet wurde, und er erkannte, dass dies das Kind sein könnte, auf dessen Geburt er so lange, all die Jahrhunderte hindurch und bis ins hohe Alter, gewartet hatte.
Hin und wieder hätte es vorkommen sollen, in etwa einem Fall von tausend Fällen (so wurde es berechnet und vorausgesagt), dass eine Missgeburt wie diese – zwei Kinder, deren Köpfe beinah unzertrennlich zusammengewachsen und fest miteinander verwurzelt sind – das Licht der Welt erblickte. Und endlich war es so weit.
Der Alte nahm einen ledernen Beutel hervor und öffnete diesen. Darin befand sich ein farbloses Pulver. Er griff in den Beutel und nahm etwas von dem Pulver zwischen seinen Daumen und den Zeigefinger. Mit Spucke befeuchtete er das Pulver, und er verrieb es zwischen den Fingern, bis sich daraus eine klebrige Masse formte.
Nun blickte er tief in diese zwei leuchtenden, schlafenden Gesichter, legte den Daumen auf die Stirn des einen Kindes und den Zeigefinger auf die des andern, massierte die Salbe ein und sprach:
«Du armer Mensch, nichtsnutziges Kind. Wozu bist du auf diese Welt gekommen, wozu in unser Reich getreten?
Du, unser eigen Fleisch und Blut, wirst fortsetzen, wohlan, was wir begonnen. Wie, aber, gedenkst du unsere Werte anzunehmen, die wir gesetzt; wie gedenkst du zu leben unter uns als einer unsresgleichen? Wie wirst du lernen all dies Wissen zu akzeptieren, das wir geschaffen kraft der Arbeit, die wir heiligen – zu akzeptieren, was wir und unsre Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende erschaffen, da du nichts weisst und auch nichts kannst?
Wirst auch du einst neues Wissen schaffen, neue Werte setzen, für all die, die nach dir sein werden? Und wie wirst du zu diesem Zwecke lernen, die Kälte zu ertragen, die zwischen den Hütten und Feuern unseres Landes hindurchfegt, da du noch so viel fühlst?
Wofür wird dein Name stehen?
Aber fürchte dich nicht, mein Kind, denn wir haben einen grossen Plan. Vielleicht gehörst du zu den seltenen Glücklichen deiner besondren Art. Und wenn es so sein soll, mein Kind, dann wird es Zeit: dass dein Geist geteilt und deine Seele gepflügt wird.»
Als der Älteste diese Worte gesprochen hatte, erhob er sich, und voller Gnade blickte er auf die beiden Sprösslinge herab, deren Köpfe vom Licht der Kerze erhellt schienen. Er wartete darauf, dass sich die Salbe, die er eingerieben hatte, verfärbte; so schob er die Kerze etwas näher an das Neugeborene heran und wartete weiter und weiter, bis plötzlich… er konnte es klar und deutlich erkennen… bis plötzlich die zwei Flecken, die er mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirnen der Säuglinge gemalt hatte, im Kerzenschein begannen – der linke rötlich, der rechte bläulich – zu schimmern.
«Wohlan!», sagte er, «so sei es», und strahlend öffnete er die Tür zum Hinterzimmer, aus dem die Schreie der gebärenden Weiber flossen sowie die Wärme des zuckenden und vom Eintreten des Windes auflodernden Feuers, und er begab sich in die Höhle, um die frohe Botschaft zu verkünden, dass die Gelehrten daraufhin, seiner Anweisung folgend, ihr Werk vollendeten und das Kind entzweiten.