Äcker unserer Zeit

Teil 1
Auf den Feldern des Daat
(Fortsetzung)

II

Schon zu Beginn des Frühjahrs wurde es des Tags zuweilen sommerlich warm. Es musste ein gutes Zeichen für die diesjährige Ernte sein, die entsprechend, und gleich dem Jahre zuvor, wohl wieder gross ausfallen würde.

Sommer: das heisst hier trockene, laue Tage, mässig viele und kleine Wölkchen, milde Winde und Temperaturen, welche die Marke von zweihundertdreiundneunzig Grad Kelvin kaum je übersteigen. Ideale Bedingungen also für das Gedeihen einer Pflanze wie dem Daat.

Während der Begutachtungszeit verbrachte Maurice seine freien Stunden gerne mit Jérémy und Étienne, seinen zwei treuen Freunden, auf der grossen Wiese am Hang des einen der beiden Hügel. Gemeinsam hatten sie wieder das Schauspiel betrachtet, das sich im Tal unter ihren Füssen all Jahr auf den Äckern abspielt:

Gegen Ende des Herbstes jeweils sahen sie, wie die unzähligen abgeernteten Daatstauden eine nach der andern samt den Wurzeln ausgehoben und fortgebracht wurden; als der grosse Schnee gefallen war, beobachteten sie, wie der kahle Boden der schmalen, weitläufigen Ebene, die zwischen den beiden Hügeln lag, langsam zu einer einzigen, risslosen Eiszunge erstarrte, die links und rechts weiter reichte, als das menschliche Auge zu blicken vermag; und jetzt im Frühjahr, nach der langen und schon Wochen andauernden Schmelze, bestaunten sie – ja, bewunderten insgeheim – die riesigen, hausgrossen Pflugmaschinen, die gemächlich und von ganz alleine, magisch, schwebend, als wohne ihnen ein eigner, zwar eher niedriger Geist inne, über die feuchte, fruchtbare und endlich wieder brach daliegende Erde gleiteten, diese zu mehreren Äckern pflügten und formten, und sie so zur erneuten Bepflanzung mit den über den Winter begutachteten Daatstauden bereiteten.

Von hier oben sahen diese Maschinen, wie sie sich fortbewegten, aus wie Elefanten von einem fremden Land, aus einer fernen, weit zurückliegenden Zeit, von der die drei Jungen also freilich keine wahre Vorstellung hätten gehabt haben können, wäre es nicht wegen der zahlreichen Geschichten gewesen, die als Jahrtausende altes Erbe von Generation zu Generation, bis hin zu ihnen, überliefert worden waren.


Die Stauden wurden ackerweise in die Lagerhallen gebracht, noch bevor der erste Schnee gefallen war, wo sie zunächst, dem Zahn der Zeit entgegenzuwirken, eingefroren und dann anschliessend einer strengen und umfassenden Prüfung unterzogen wurden. Der Zustand einer Staude war nämlich alleine entscheidend für das Schicksal ihres Pächters oder ihrer Pächterin, und entschied folglich auch über deren zukünftige Entwicklung und Ernte.

Staude für Staude sah man sich ihre grünen Stämme an und ihre Äste, mass deren Länge, Zahl und deren Dicke, mass die Komplexität ihrer Verzweigungen und Verknorpelungen an einer eigens dafür entwickelten Skala, betrachtete die Blätter, mass deren Grösse, deren Einheit oder Vielfalt, zählte die wenigen, noch nicht abgefallenen oder bei der Ernte übersehen wordenen Früchte und Blüten, notierte deren Farbe, deren Grösse und vor allem deren Zustand – ob glänzend geschmeidig oder bereits braun und faulig –, machte ein ähnliches Prozedere mit den Wurzeln, und verglich im Anschluss, als der gesamte Bestand eines Ackers aufgenommen war, alle Stauden untereinander, berechnete Mittelwerte und Abweichungen um schlussendlich, nachdem aus den gesammelten Beobachtungen auch Vorhersagen gemacht wurden, jede Staude den Ergebnissen folgend neu einzuteilen.

Für die meisten Feldarbeiter änderte sich dabei jahrein, jahraus nichts – oder wenigstens nicht viel. Hin und wieder aber konnte es vorkommen (und die Geschichten sind voll von solchen Ereignissen), dass ein Entscheid in einem einfachen, unbescholtenen Menschen einen Riss hinterliess, der nie mehr wieder verheilen konnte, und der diesen Menschen sodann für den Rest seines Lebens zum Märtyrer machte.


Maurice und seine Freunde warteten noch auf die Resultate der Begutachtung, und Maurice hoffte, dass er auch diesen Sommer wieder auf seiner Plantage und neben Jérémy und Étienne wird arbeiten dürfen.

Er hatte ein gutes Gefühl bei dem Gedanken, schliesslich wurde ihnen im Winter wichtiges Wissen gelehrt, das nur auf dem Acker der Technologie, demjenigen Acker also, dem die drei Freunde zurzeit angehörten, seine Gültigkeit hatte, und auch wurden in täglichen Übungen fleissig die Sinne geschärft und die Bewegungen verfeinert, damit sie ihr spezielles Handwerk nicht vergassen. Das durfte auf keinen Fall umsonst gewesen sein.

Dann war da auch noch Madeleine.

Schon seit Maurices Kindheit stand sie in der Plantage neben ihm zu seiner Rechten – eine leere Stelle trennte die beiden jetzt mehr als zwei Armlängen voneinander –, doch sie gehörte nicht zum Freundeskreis. Jérémy und Étienne verachteten sie, denn sie war ein bewundernswertes Geschöpf. Ihre Verachtung ging mitunter so weit, dass sie sie bespuckten, wenn gerade kein Erwachsener zugegen war, oder sie mit Dreck und Steinen bewarfen – und jedesmal, wenn Maurice dabei zuschauen musste, brach es ihm das Herz.

Das kleine, zarte, schützenswerte Pflänzchen, das vor ein paar Jahren noch vor ihr gestanden hatte, war indessen zu einer grossen, starken Staude angewachsen, die weiche, grüne, mit feinsten Härchen besäte Blätter und saftig glänzende Früchte an ihren vielzähligen und dicht verflochtenen Ästen trug. Madeleine war unzweifelbar fleissig gewesen. Sie wurde aber auch selten von ihrer Arbeit abgelenkt, denn man sprach nicht oft mit ihr. Ohnehin wurde bei der täglichen Arbeit auf den Äckern kaum gesprochen; und die wenigen Worte, welche die Freunde dennoch untereinander austauschten, waren niemals für Madeleine bestimmt.

Insgeheim hoffte Maurice, dass sie für immer bei ihm bleiben und neben ihm ihr Daat bearbeiten würde, während er hier seines bearbeitete. Er wollte ihre Haut sehen, die weiss und weich im Schein der Sonne, der durch die Blätter drang, schimmerte, wollte sehn, wie sie mit ihren feinen, lieblichen Fingern über die Blätter und Äste strich, diese betastete, befühlte, die Äste bog und knickte, zusammenflocht und verknüpfte, und wie sie die Knospen zum Öffnen mit ihren Fingerspitzen sanft berührte und die zu klein geratenen, schrumpligen Früchte auspflückte.

Das alles wünschte er sich, obschon er Madeleine die Misshandlungen auf dem Feld nicht gönnte. So hoffte er zugleich in seiner zerrissnen Art, dass man sie endlich fort von hier und auf die Akademie schickte, was eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein konnte.

Auch er, Maurice, der von Sonne und Feuern braungebrannte, liebäugelte schon eine Weile mit der Akademie. Für ihn war die Akademie ein Traum, ein Traum von solcher Art, bei der man nicht weiss, ob man sich ihn erfüllt wünscht oder lieber als den einen Ewigen Traum bewahrt; wie die Berge, bei deren Anblick Maurice zwar spürte, dass er sie erklimmen könnte, wenn er bloss all seinen Mut fasste, sich genug anstrengte und seine tiefsten Ängste überwand, es aber doch nie tat, es nicht einmal versuchte, um sich diese süsseste aller Vorstellungen zu bewahren und die ferne Möglichkeit nicht zu zerstören.

Am Ende würde es aber nicht er sein, der über seinen Sommer entschied – soviel wusste er.

Und während die drei Freunde also warteten, verbrachten sie die wenige, kostbare Zeit, die sie hatten, miteinander am Hang, beneideten die Pflugmaschinen, wie sie elegant und ohne zu klagen ihre harte Arbeit verrichteten, lauschten dem leisen, kaum hörbaren, sterilen Ton ihres Antriebs, der beinah durch das zarte Rauschen der Blätter am fernen, hoch oben gelegenen Waldrand überschallt wurde, sprachen über das Gelernte im Sitzen und massen die Kräfte ihrer Arme und Beine in Kämpfen, während sie die Geschicklichkeit ihrer flinken Finger in Spielen prüften.


Eines Nachts begab es sich – es war jene Nacht gewesen vor der Verkündigung der Resultate –, dass ein plötzlicher, heftiger Durst Maurice überkam und ihn aus lebendigen Träumen und seinem heissen, feuchtgeschwitzten Bette jagte.

Mit den Zehenspitzen betastete er vorsichtig den sandigen, kalten Steinboden, warf die nasse Decke zur Seite, setzte sich auf die Bettkante und schlich vorbei an den andern Betten, in denen seine Kameraden ihren eignen süssen Träumen nachgingen, schlich sich raus aus der grossen Kammer, um den Brunnen der Anstalt aufzusuchen, den einzigen Ort zu finden also, der ihm um diese Stunde Erfrischung versprach, Reinigung versprach und das ersehnte Löschen seines scheinbar unstillbaren Durstes.

Es war nicht das erste Mal gewesen. Schlecht hatte er sich selbst geschaut, hatte seinen Körper geschändet, seine Seele vernachlässigt, ja, hatte durch das viele Lernen und Spielen und Kämpfen kaum bemerkt, wie er doch langsam und schleichend von innen her austrocknete. So fragte er sich, da sein ungewöhnlich starker Durst ihn diesmal fast zu Tode quälte, weshalb er, immer und immer wieder denselben Fehler begehend, aus seiner eigenen Unvernunft nichts lernen wollte.

Schwach drang das Licht der Monde durch die zahlreichen, hohen Fenster; bläulich schien es hinein in die finstre Galerie und auf deren andres, weit entferntes Ende, wo Maurice seine Qualen in der Quelle zu ertränken suchte.

Als er dort ankam aber blickte er hinab auf den trocknen Stein, blickte hinein in ein leeres, vertrocknetes Becken, über dessen glatte Oberfläche er nun mit zwei Fingern strich. Kein Tröpflein Wasser blieb haften, so trocken fand er dies Becken vor, kein Stäubchen Schmutz blieb an den Fingern kleben, so blank und sauber schien die Quell’ des Nachts zu sein. Nicht ein Körnchen Sand, kein einziges Stückchen Erde, weder feucht noch trocken, konnte er darin finden, das er, die Fingerspitzen aneinander reibend, hätte zu Boden bröseln oder in der Luft können zerstäuben sehen.

Was sollte er bloss tun? War dieser Brunnen nicht die einzige Wasserquelle in der gesamten Anstalt? Ja, war dies nicht die einzige Quelle überhaupt weit und breit – mit einer Ausnahme? Doch mochte er jetzt kaum daran denken, was wohl passierte, erwischte man ihn, wie er sich mit geheiligtem Wasser wusch, wie er sich am Brunnen geheiligten Wassers erfrischte, an ihm seinen Durst löschte.

Das geheiligte Wasser war nicht für ihn bestimmt, soviel stand fest, auch für keinen andern Menschen war es bestimmt, sondern für die Daatstauden, für die grössten und prächtigsten aber nur, und für jene wenigen kleinen und kümmerlichen, von denen man sich Besonderes versprach, von denen man sich versprach, dass sie später einmal, eines fernen Tags, die meisten Blüten und Blätter trügen, die grössten Früchte, ja, die saftigsten und wertvollsten im ganzen Lande. So glaubte Maurice auch seit einiger Zeit schon, dass die Staude Madeleines von jenem wundersamen Wasser erhalten haben muss, und das vermutlich nun seit vielen Jahren. Er aber, Maurice, hatte seine geliebte Staude nie damit tränken dürfen.

Gedrängt durch diesen Durst, der zu töten im Stande schien, blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich aufzumachen zu dem Brunnen geheiligten Wassers, nur, um sich kurze Zeit später, noch immer gequält, nun aber gleichzeitig erbost über diese Unvernunft, vor schweren eisernen und abgeschlossnen Toren vorzufinden.


In sein nasses, dünnes Nachthemd gekleidet schlich sich Maurice heraus aus der Anstalt und hinein in die klare, kalte Nacht, denn er hatte einmal gehört, dass sich weit oben auf dem höheren der beiden Hügel und tief im Walde eine Quelle befände, jene Quelle, so sagte man gar, von der das Wasser herkäme, bevor es geweiht würde.

Von grosser Ferne her hörte er ein sanftes Surren in seine Ohren dringen.

Er nahm den ersten zu jenem Hügel hin- und quer durch einen der brachliegenden Äcker hindurchführenden Pfad, den er finden konnte, und als er kurz vor dem Anstieg des Hügels seinen Kopf nach hinten drehte, um zu schauen, wie weit er schon gekommen war, da sah er im Licht zweier Monde, im Schein tausender Sterne und im schwachen Schimmer ein paar weniger, durch das menschliche Auge sichtbarer Galaxien die Karosserie einer stolzen Pflugmaschine blitzen, die auch nachts unentwegt, um die Anstalt herum und auf den Äckern, ihre Arbeit verrichtete.

Mit Kräften kaum sparend rannte Maurice, so schnell ihn seine Beine nur tragen mochten, über das feuchte Gras, und er stieg die flache und langsam immer steiler werdende Höhe an. Dann aber bald schon, noch bevor er die ersten Bäume erreichen konnte, musste er sich bücken, um nicht hinzufallen, und zuweilen auf allen Vieren kraxeln, um nicht den ganzen weiten Weg, den er bereits gegangen war, wieder hinunterzurutschen.

Wie ein hoher, schwarzer Schild, bei dessen Anblick ihn plötzlich eine unbegreifliche Ehrfurcht packte, türmten sich die dunklen, alten Tannen vor ihm auf, als er sich nun nach einer Weile wieder aufrichtete.

Noch ein letztes Mal, bevor er dann diesen Wald betreten würde, wollte er sich umdrehen und hinab ins Tal blicken. Doch schon bei dem Gedanken allein wurde ihm beinah schlecht und schwindlig. So hoch wie heute hatte er sich zuvor noch nie hinauf-, so fern wie jetzt in seinem ganzen Leben noch nie hinausgewagt.

Inmitten des Tals, inmitten des Nichts und umringt von Äckern, erblickte Maurice die Anstalt, die von hier oben aus winzig wirkte. Er erkannte jedoch genau, dass sie früher als Kloster der ersten Siedler gedient, später dann auch – noch immer aber vor seiner Zeit –, anhand des grossen, hallenartigen Anbaus, als Fabrikgebäude genutzt worden war.

Da waren, so weit das Auge reichte, Äcker, nichts als Äcker.

Eingeklemmt zwischen zwei Hügeln – demjenigen, auf dem sich Maurice befand, und dem gegenüberliegenden, dem niedrigeren der beiden mit der Akademie und der Siedlung, wo um diese Zeit kein einziges Lichtlein mehr aus den Fenstern der Hütten drang, wo kein Feuer in den Gassen mehr brannte – breiteten sich die Äcker aus, und ihre Spuren folgten mal dem Verlauf der Hügel, mal standen sie senkrecht zu ihm. Hier und da blitzten silberne, über die Erde schwebende Pflugmaschinen auf, die im Schein voller Monde ihr Werk vollbrachten und die so weit, und noch viel weiter, hinausfuhren, wie die Äcker beidseits, links und rechts, im fernen Nebel untergingen.

Völlig gleich, was jetzt geschehen würde, Maurice wusste – ob diese Quelle existierte oder nicht, ob er sie nun fände oder nicht –: vor dem Morgenrot musste er wieder zurück in der Anstalt sein und in seinem Bett, musste schlafen, sich schlafend stellen, ja, es blieb ihm nichts andres übrig als – ob dann noch immer gequält oder bereits erlöst – als ein Lebender zurückzukehren… denn morgen war ein wichtiger Tag, der wichtigste im ganzen Jahr, auf den er und seine Freunde – und alle Feldarbeiter überhaupt – seit Wochen und Monaten schon mit Hoffnung und Angst, mit Freude und Furcht zugleich gewartet hatten.

Was er wohl in diesem Wald entdecken würde? Was er wohl hören würde, fühlen, riechen würde? Was bloss seine Augen sähen in dieser Finsternis, wenn überhaupt etwas, fragte er sich.

Der Wald war nichts Verbotenes. Doch war er für die Bewohnerinnen und Bewohner der Anstalt wie ein schwarzes Loch, wie ein tiefes schwarzes Buch mit sieben Siegeln. Maurice kannte keinen, der je den Wald betreten hatte, kannte folglich also niemanden, der ihm sodann von seinen Erlebnissen, geschweige denn von den Gefahren des Waldes, hätte berichtet haben können.

Verführt von dieser Vorstellung, gelockt, gleichzeitig aber auch gelähmt, als stünde er gerade vor dem Tor in eine fremde, ihn verzaubernde und vielleicht – wenn es schlecht um ihn stünde – verstörende Welt, betrachtete er die hohen Tannen, deren Wipfel weit über seinen Kopf hinausragten.

Hunderte Male schon hatte er die Warnungen gehört, hunderte Male, bevor er sie jetzt wieder aus seinen fernen Kindheitserinnerungen in seinem Bewusstsein aufzucken spürte.

«Bleibt fern vom Wald, wenn ihr auf der Wiese spielt», hatten sie gesagt.

Und jedes Mal hatte er als einziger gefragt: «Warum?»

Dann schwiegen sie. Und immer sagten sie:

«Du musst im Leben stets mit dem Schlimmsten rechnen, Maurice.

Rechne damit, dass im Wald der Teufel haust und Kinder wie dich bei lebendigem Leibe kocht. Zuerst hackt er dir mit der Axt die Füsse ab und dann die Beine – dass du nicht mehr fliehen kannst. Danach beisst er dir mit den Zähnen die Hände weg und dann die Arme – dass du dich nicht mehr wehren kannst. Und während er das tut, liegst du wach und schreist nach uns: wir aber können dich nicht mehr hören.

Manchmal wartet er nur, der Teufel, denn er hat Zeit. Schon lange hat er keinen knurrenden Magen mehr. – Habt ihr verstanden?»

Nur, dachte Maurice heute, sei er nun schon lange kein Kind mehr.

Niemand hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. Sein bisheriges Leben nicht und erst recht kein Lehrer hatten ihn gelehrt, was es bedeutet, in der Wildnis zu sein, in der Freiheit und Wildnis zu wandeln, in ihr zu leben, ja, zu überleben. Wie hätten sie auch sollen? Kein Mensch, dessen Worte Maurice früher nur allzu gerne, und eines trocknen Schwammes gleich, aufgesaugt hatte, war selber je frei gewesen.

Sein tiefsitzender Durst aber war noch nicht gelöscht.


Es knackte und knisterte unter seinen Füssen; er machte ein, zwei Schritte; der Boden fühlte sich weich an. Es raschelte, wann immer er die Zweige der Sträucher, die er in seinem Gesicht spürte, mit den Händen beiseite drückte. Es knisterte und knackte weiter; noch immer fühlte sich der Boden weich an.

Nur wenige Schritte hatte Maurice getan, da wurde es schnell schwarz um ihn herum; die dicht bewachsenen Tannen schirmten das ferne Sternlicht ab. Hier und dort knisterte es, knackte und raschelte es; kräftig spitzte er seine Ohren. Der Boden fühlte sich jetzt nicht mehr weich an; es ging holprig weiter.

Vorsichtig tastete er sich voran, fühlte Äste, ertastete Baumstämme, bahnte sich langsam seinen Weg mit der einen Hand weit ausgestreckt, die andre dabei schützend vor dem Gesicht. Tief atmete er die feuchte, erdige Luft ein. Manchmal stolperte er über grosse Steine oder über dicke, aus dem Erdboden ragende Wurzeln, von den Tannen ausgehend, die in der Höhe schwankten, die im Wind ihr Nachtlied spielten.

Obgleich er mit den Augen nichts sehen konnte – es war finsterer, als es die Nacht allein herbeizuführen weiss –, begann Maurice mit all seinen anderen Sinnen die Grenzen der Baumstämme zu erfassen, und zwar in einer solchen Klarheit und Schärfe, dass er erschrocken erst glaubte, ihn habe bereits das Morgengrauen erreicht.

Zwischen den Sträuchern und Bäumen sah er nun Farben und Lichter, die sich zu Mustern zusammenfügten, diese wiederum zu komplexen und immer komplexer werdenden bunten Gebilden: bekannte Bilder erreichten ihn aus seiner Erinnerung vielleicht, aus dem Leben in der Anstalt, aus den Korridoren und den Kammern, bei den Speisen, beim täglich Mahl und bei den Spielen, aus seiner Arbeit auf dem Felde; dann aber auch neue, doch sehr undeutliche, unscharfe Bilder: verworrene Szenen weitläufiger, verbrannter Landschaften; exotische Gärten, Oasen voll fremdartiger Pflanzen; seltsame Ereignisse, die Maurice nicht verstand, die er nicht zu deuten wusste, als blickte er gerade blind, wie er doch vor Dunkelheit war, dafür direkt für einen kurzen Moment in die Zukunft dieser Welt oder aber in die Gegenwart einer andern.

Stimmen erklangen aus der Ferne – Maurice vermochte nicht einzuschätzen, von welcher Richtung her sie kamen –, Stimmen, die miteinander redeten, die lachten; Stimmen, die Lieder sangen, Lieder, die Maurice selbst einst als kleines Kind gesungen hatte. Seine Visionen aber – so unerwartet und plötzlich, wie sie ihm vorhin erschienen waren – waren auf einmal wieder verschwunden, waren verschmolzen zu drei winzigen, roten Punkten, die ihn aus der Dunkelheit heraus anblinzelten, die wie feurige Augen funkelten und bei jedem Anblick seine Seele quälten.

Nein! Unmöglich hatte er sich dies alles bloss eingebildet.

Er tastete, hörte, roch und fühlte sich weiter seinen Weg voran (wie er nur hoffen konnte in Richtung einer Quelle), tappte fortwährend im Dunkeln und wich im grossen Bogen den bösen Blicken aus, bis er jetzt, und wieder von da drüben, die Umrisse der Stämme sah, an denen vorbei ein zartes, gelbliches, wie ein dichter Nebel im Raume schwebendes Licht glomm, dessen Wärme er auf seinem Gesicht zu spüren glaubte.

Da stand eine runde Hütte vor ihm, aus Lehm gebaut, mit einem einfachen Strohdach bedeckt. Unmittelbar von lockerer Erde umgeben, von Moos und ein paar niedrigen Sträuchern, wurde sie von den Tannen in einem weiten Kreis umschlossen. Die Hütte hatte drei runde Fenster, wovon eines leicht gekippt stand. Aus diesen Fenstern flackerte das Licht eines Feuers oder eines Duzends kleiner Kerzen, das die braunen Bäume beschien und, sodann an ihnen zurückgeworfen, die Hütte von aussen rötlich und glitzernd, als ob das Licht durch ein Wasser gebrochen würde, aus dem Dunkeln hervortreten liess.

Ein wohlriechender, würziger Duft, der aus dem gekippten Fensterchen drang, fesselte Maurice, verzauberte ihn und seine Sinne. Die Stimmen vermischten sich in seinem Kopf: sowie diese im Gelächter untergingen, verschmolzen sie mit süsslichen Liedern, die Maurice in ihren Bann zogen, bis die Stimmen mit den Liedern eins wurden und sich am Ende wieder von ihnen trennten.

Unweigerlich, die Kontrolle über sich selbst, über Verstand und über Leib verloren, trat er jetzt zur Hütte hin. Vorsichtig erstmals setzte er sich auf die kühle Erde, den Rücken an die Lehmwand angelehnt, und unter das gekippte Fenster, blickte aus Angst nicht hinein, also dass er dafür umso aufmerksamer horchte.


… – «…Hahahahaha…» – «…Wie wahr, wie wahr! Und dann sagte er…» – «…oder lieber so? Sie müssen sagen, ich weiss nicht…» – «…Mmmh… Oooh…» – «…Ganz im Gegenteil, mein Freund. Sie sind hier der Kunde…» – «…ahahahahahaaa… Köstlich! Einfach nur köstlich! Haha…» – «…Mmmh… Oooh…» – «…abstossend! Ekelerregend und abstossend!…» – «…sowas hab ich noch nie gehört. Die Arme! Wenn er doch bloss…» – «…Pfui Teufel. Dieses Zeug ist zwar belebend, schmeckt aber noch viel grauenhafter, als es ausschaut.»

«Ha! Da geb ich dir ausnahmsweise mal recht. Aber gut tut’s!»

«Ja, ’s tut gut. ’s tut immer wieder gut. Du weisst schon: man vergisst’s nur gern und muss sich dann jedes Mal aufs Neue überwinden.»

«Sag ich ja!»

«Möchten Sie noch einen Schluck, werter Herr?»

«Wenn Sie mich meinen? Liebend gerne! … … Daaang-kke!»

«Und der andre werte Herr?»

«Der ‹andre werte Herr› hat, würde ich mal so schätzen, für heute genug. – Oder täusch ich mich da etwa? Hahaha!»

«Halt’s Maul. – Er macht sich über mich lustig. Sie verstehen schon: weil ich mich vorhin über den Geschmack beklagt habe.»

«Sie dürfen es sich gerne in Ruhe überlegen.»

«Nein, nein. Er hat schon recht. Für heute genug, danke.»

«Wie es Ihnen beliebt.»

«Was für ein Jammer! Der alte Knabe gibt auf!»

«Halt’s Maul. – Ach! Wissen Sie was?»

«Ja, bitte? Zum Höhepunkt vielleicht doch noch ein kleines Schlückchen?»

«Nein, aaber: Sie könnten was anderes für mich tun.»

«Und das wäre?»

«Naaa… kommen Sie mal her, kommen Se her zu mir. Sie wissen schon, ja, kommen Sie ruhig näher. … Nun tun Se mal nich’ so zimperlig, kommen Sie näher! Wieviele Jahre kennen Sie mich denn eigentlich schon?»

«Hahaha… Keine Angst, mein Junge! Sie wissen doch, dass Sie mein Liebling sind. Da braucht Ihnen niemand was vorzumachen.»

«Jaaa, das bin ich, das bin ich. In der Tat bin ich das. Ich bin sogar einer Ihrer wertvollsten, wenn nicht der wertvollste Ihrer Lieblinge.»

«Oh!… Sie woll’n s’doch nicht etwa anfassen, Sie!… Pfui! Weg da! Pfui! … Pfui pfui pfui!»

«Geben Sie mir Ihre Brüste. Geben Sie sie mir.»

«So leicht mach ich Ihnen das nicht, Freundchen.»

«Nein! Gehen Sie jetzt nicht weg! Kommen Sie wieder zu mir… bitte!»

«Nein.»

«Bitte bitte…»

«Nein.»

«Her damit! Los! Na wird’s bald!»

«Sch…sch…sch…sch…schhh…… Erst müssen Sie noch ein Schlückchen trinken.»

«Ah! Zum Teufel! – Wenn’s unbedingt sein muss, wenn Sie meinen… immer wieder dasselbe… … danke. Reicht schon, danke. Es reicht, hab ich gesagt!»

«Mhmm? Und jetzt: schön langsam.»

«Ja…»

«Schön langsam… Nichts überstürzen, Junge.»

«Ja… Mmmh… köstlich! Mmmh… Oooh… und eklig…mhmm… köstlich…mmm…undeklig…mm… zugleich.»

«Mhmmm?»

«Ja… das wollt ich… allerdings, das hatt ich gesucht. – Und jetzt darf ich? – So ist’s gut… brav ist’s… ja, ’s brav…»

«So so so! Fertig jetzt.» «Ach!…» «Und? Was sagt man?»

«Jooo… was sagt man was sagt man… – – Danke.»

«Nichts zu danken.»

«Ich weiss, ich weiss. Sie haben ja recht. – Die Kleine hatte mal wieder recht, so, wie sie immer recht hat und ich nie recht habe, egal, was ich auch sage. – Sie scheinen mich in der Tat besser zu kennen, als ich mich selbst.»

«Tja, dafür sind wir ja da, mein Lieber.»


Wäre er nicht so weit gekommen, wär sein Nachthemd nicht nass und die Nacht nicht so kalt (es fror ihn und er zitterte am ganzen Leibe), und vor allem: fühlte er sich nicht, als ob kein einziger Tropfen Wasser mehr in seinen Gebeinen übrig bliebe, als ob Blut bereits und Galle ihm aus den Poren träten – ja, so hätte Maurice schon längst, spätestens jetzt aber an diesem schauderhaften Ort, seinen Heimweg angetreten.

Doch die schlimme Verfassung, in der er sich befand, und der Umstand, dass die sagenumwobene Quelle keinerorts hier oben in diesen weiten und breiten Wäldern für ihn auffindbar schien, liessen ihm keine andre Wahl.


Matt klopfte er mit der Faust ans Tor der rötlich flackernden Hütte, und er machte einen Schritt zurück, doch nichts geschah: also dass er abermals vor dies Tor trat, kräftig diesmal mit den Knöcheln schlug und trommelte, und wieder einen Schritt zurück machte – woraufhin die Hütte jetzt plötzlich, eben noch durchdrungen von schrillem Gelächter, nach ein paar Zischen verstummte.

Er wartete. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit; zwischen seine Füsse hindurch schimmerte ein haarfeiner, gelber Lichtstrahl, der auf der mit Moos bedeckten Erde kurz zitterte, dann sogleich wieder verschwand.

Maurice entfernte sich einige Schritte von der Hütte, ohne jedoch nach hinten zu schauen, ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass ihn dort nichts Böses erwartete.

Dann, in einem Ruck, sprang die Tür weit auf, und im selben Moment knickte Maurice, der über eine Wurzel oder einen Stein gestolpert war, zu Boden.

Heraus trat eine Wolke: sie schwebte auf ihn zu und umhüllte ihn, hüllte ihn ein in diesen würzigen, wohltuenden Duft, der ihn benebelte.

Geblendet von jenem grellen Licht, das aus dem Raume drang, als der Nebel sich um ihn herum verzogen hatte, stand Maurice auf, und im Türrahmen bemerkte er nun eine schwarze Gestalt erscheinen, die sich elegant zu bewegen und im Dunst zu winden wusste. Mit ihren sechs Armen, die sich in rundlichen Schwingungen herum um den Körper schlängelten, füllte die Gestalt das ganze gelb leuchtende Tor aus.

Sein Herz raste. Maurice sah, dass die Kreatur sich im Licht auf ihn zubewegte. Weiter sah er nur verschwommen und schwarz.

‹Der Teufel!›, dachte er. Noch wollte er nicht sterben.

Doch als Maurice seine Not, in der er sich befand, jetzt endgültig verstehen konnte, da blieb ihm der Atem weg und vor Schreck in der Brust das Herz stehn, alsdann er, den Zustand seiner Erschöpfung erreicht, vor den Füssen dieses Wesens zusammenbrach.


Bald schon würde Maurice aus leerem Schlafe erwachen.

Und in jenem Moment, als er erwachte, würde der Glückliche erkennen, dass dies Wesen – zwar furchterregend, wie es draussen in der Nacht auf ihn gewirkt hatte – nicht der Teufel, sondern nichts Gefährlicheres gewesen sein konnte als drei junge Weiber, nackt und mit samtiger Haut, in deren sicherer Obhut der Jüngling nun aufgenommen war.

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