Teil 1
Auf den Feldern des Daat
(Fortsetzung)
III
… – «Ja, aber es ist schon spät. – Auf Wiedersehen, meine Damen!» – «Auf Wiedersehen!» – «Wenn du meinst… dann werd ich mich halt auch auf den Weg machen. – Wünschen Sie dem Jungen gute Besserung!» – «Werden wir gerne für Sie ausri…» – «Oder nein… wissen Sie was? Lassen Sie das. … Genesen soll er aber trotzdem. Auf Wiedersehen!» – «Klar. Bis zum nächsten Mal.» – «Da muss ich mich, wohl oder übel, den zweien da anschliessen. Auf Wiedersehen, meine lieben Damen! Und danke! Es war mir ein Vergnügen.» – «Nichts zu danken! Bis bald! Und kommen Sie gut durch den Wald!» – …
…
«Ich gehe.»
«Auf Wiedersehen, mein Herr.» – «Und danke, mein Herr! Es war uns, wie immer, eine Ehre!»
«Sorgt dafür, dass der Junge so schnell wie möglich auf die Beine kommt.»
«Ich werde mich sogleich persönlich darum kümmern, mein Herr.» – «Nochmals Verzeihung, mein Herr, Verzeihung!…»
«Ich will es nur ein Mal gesagt haben.»
«Natürlich.» – «Verstanden, mein Herr!»
«Wie war das?»
«Selbstverständlich, mein Herr.»
…
«Heizt den Kessel auf! Ich hol die Mischung … »
…
Links knisterte es und es war warm. Rechts hörte er leise Schritte, und er hörte sanfte, weiche Stimmen.
Langsam wachte Maurice auf. Es war eng, er konnte sich kaum bewegen. Als er seine Augen öffnete, fand er sich bis zum Hals in weisse Tücher eingewickelt.
Sein Nacken war steif. Er versuchte, seinen Kopf etwas nach links zu drehen: Über den zuckenden Flammen hing ein eiserner, schwerer Kessel, in dem es blubberte, brodelte und kochte.
Von hinten klang es, als hackte jemand mit einem Messer auf einem Brett herum.
Dann drehte er den Kopf schmerzlich nach rechts: Am Boden und unmittelbar vor seiner Nase stand eine Schale aus dunklem Holz, die lautlos vor sich hindampfte.
Nun blickte er wieder zur Decke hinauf unters Strohdach.
Er blinzelte leicht, also dass er abermals verschwommen sah. Durch mehrmaliges kräftiges Blinzeln versuchte er nun, seine Sehschärfe zurückzugewinnen – doch nur das Gegenteil geschah.
Jetzt plötzlich, beim Öffnen seiner Augen, erahnte er, weit entfernt von ihm und knapp unterm Strohdach, so etwas wie ein Gesicht schweben. Er hörte auf zu blinzeln.
Allmählich schärfte sich sein Augenlicht wieder, und dieses Gesicht schien zu wachsen: langsam näherte es sich dem seinen.
Fremd schaute es aus; fremd, doch keineswegs bedrohlich.
«Wo bin ich?», fragte Maurice das ihn fürsorgevoll anblickende Antlitz. Und eine Stimme antwortete:
«Du befindest dich im Haus der Huren, mein Lieber.»
Maurice runzelte die Stirn. «Ist es denn schon Morgen?», fragte er.
«Nein», sagte die Stimme, «weshalb? Es kann erst kurz nach Mitternacht sein.»
Maurice aber gab auf die Frage keine Antwort.
«Wie fühlst du dich, mein Junge?»
«Ich verstehe nicht», sagte Maurice. «Wer bist du?»
«Ich bin eine der Huren, denen dies Haus hier gehört.»
Daraufhin legte die Hure ihre rechte Hand flach auf die Tücher, dort, wo sich Maurices Brust befand.
Erneut fragte sie: «Wie fühlst du dich?», doch Maurice wusste wirklich keine Antwort.
«Ich weiss nicht», sagte er, «ich verstehe die Frage nicht. Ich fühle nichts.»
«Fühlst du dich warm und gut durchblutet?» Sie legte den Handrücken ihrer andern Hand auf seine Stirn.
«Warm, ja», sagte er jetzt. «Die Füsse fühlen sich warm an, wie auch die Beine. Die Hände fühlen sich warm an, wie auch die Arme bis zu den Schultern… Nur mein Kopf, der ist noch ganz kalt!»
«Ich spüre es», sagte sie, als Maurice hinzufügte:
«Meine Brust ist heiss. Dort, in der Mitte der Brust, brennt es auf der Haut und darinnen sticht’s. Und wenn ich diese duftende Luft hier einatme, so ist’s, als ob beissender Qualm durch die Kehle dränge und meine Lungen sich mit Feuer füllten.»
«Hier», sagte die Hure, «trink noch ein Schlückchen von diesem köstlichen Tee.»
Sie nahm die dampfende Schale in die rechte Hand und führte sie vorsichtig zu seinem Mund. Mit der linken stützte sie seinen Nacken. Wie ein Blinder suchte Maurice mit geschlossnen Augen den Rand der Schale, und mit den Lippen versuchte er, diesen zu fassen.
«Langsam – dass du dich nicht verbrühen kannst.»
Er trank einen kleinen Schluck, dann legte er sich wieder hin.
«Was sind Huren?», fragte er jetzt. Die Hure lachte. «Ach, du!» Er aber öffnete seine Augen, drehte den Kopf ein wenig, so weit es ging, zur rechten Seite, und schaute sie an.
«Du sollst vor mir keine Angst haben, mein Freund!», erklärte sie ihm sodann. «Huren: das sind Seelenblicker. Sie verstehen sich auf die kostbare Magie, den Menschen zu geben, was sie brauchen und was sie wollen. Man denke an die Vielen, die zu wissen glauben, was sie tief im Innersten bewegt. Ihre wahren Wünsche und Sehnsüchte aber bleiben ihnen ihr Lebtag verborgen. Es ist unsere seltene Gabe und unsere Verantwortung, diesen Menschen ein Licht in ihr Dunkel zu werfen – ohne, dass sie uns auch nur ein Wort sagten.»
Maurice hatte die ganze Zeit, als die Hure gesprochen hatte, aufmerksam zugehört, hatte sie angeschaut, und auf seiner Stirn waren Falten zu sehen gewesen. Nun lag er schweigend da, die Stirn geglättet, mit dem Gesicht ihr abgewandt, und die Augen wieder geschlossen.
In sich gekehrt schien er nach etwas zu suchen, schien zu forschen, und lange nach diesem Etwas zu graben.
Nach einer Weile sprach er leise zu ihr:
«Jetzt will ich sterben»,
und er wartete auf eine Antwort, doch die Hure schwieg. Dann aber flüsterte die Seelenblickerin ihm zu:
«Du brauchst kein Wort zu sprechen.»
Während sie mit der Rechten noch immer die Schale in der Hand hielt, begann sie jetzt, sanft mit der Linken seine Wange zu streicheln. Sie führte die Schale nahe an ihre Lippen heran und blies, also dass sich der Tee schneller abkühlte.
«Wie ist eigentlich dein Name, junger Mann?», fragte sie. Antwortete Maurice: «Ich bin Maurice.»
Einen Augenblick lang hörte sie auf, ihn zu streicheln, ohne jedoch die Hand von seiner Wange zu nehmen. Sie sagte:
«Freut mich, dich genauer kennenzulernen, Maurice», dabei führte sie die Fingerspitzen langsam zu seiner Schläfe hin, begann, den Druck zu erhöhen, und sagte: «Du kannst mich ‹Marie› nennen.»
Von einem plötzlichen Schmerz durchdrungen zuckte Maurice in den engen Tüchern zusammen, also dass er auf einmal seine Augen weit aufriss und hinauf zur Decke starrte.
«Ich habe dir doch nicht etwa wehgetan, mein Bruder?» Sie nahm die Finger von der Schläfe, und mit ihrem Blick suchte sie den seinen. Er aber schaute schweigend am Gesicht dieser Hure vorbei, die sich als eine ‹Marie› ausgab.
«Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Wie konnte das bloss passieren?»
«N… N…n…Nein… d…d… das ist es n… n…nicht», sagte er mit zittriger Stimme.
«Nein?», fragte sie. «Was ist es dann, Maurice? Was ist es dann, Maurice?»
Er zitterte jetzt am ganzen Leibe.
«M…», stotterte er.
«Maurice?»
«M… M…»
«Maurice Maurice?… Hahaha!»
Streng presste er seine Lippen zusammen, und mit weit aufgerissnen Augen starrte er hinauf unter das goldene Stroh.
«Du bist verliebt, Maurice», sagte die Seelenblickerin. Maurice aber schüttelte den Kopf.
«Doch.»
«Die erste?!…», schrie er plötzlich gequält, dass ihm Spucke aus dem Mund schäumte, «die zweite?!…», und trotzig schüttelte er den Kopf, dass die Spucke in Fäden durch die Luft flog, den heissen Steinboden berührte und in den Flammen verzischte.
«Und du kennst jemanden mit dem Namen ‹Marie›», sagte sie. Maurice schwieg.
Jetzt legte Marie die Schale beiseite und sie klemmte den Zipfel eines der beiden Tücher, die Maurice umschlangen, zwischen ihren Daumen und den Zeigefinger. Fest kniff er die Augen zu, während sie den Zipfel zu seinen Wangen führte, die nun fiebrig glühten.
«Du kanntest ein Mädchen, das auf den Namen ‹Marie› hörte und das du liebtest», sagte sie, als sie mit dem Zipfel des weissen Tuchs eine Träne aufsaugte, die langsam aus den Tiefen hervorquoll.
Sie richtete ihn auf. Sitzend nahm sie ihn in die Arme, und sie flüsterte ihm von hinten sanft ins Ohr:
«Deine Schwester…»
Kaum etwas auf dieser Welt war den Huren so fern wie das entfremdete Leben, das Maurice und seine Freunde führten.
Sie lebten abgeschieden, abseits jener vorherrschenden Zivilisation, und für gewöhnlich mieden sie den Kontakt mit diesen eigentümlichen Bewohnerinnen und Bewohnern der Anstalt. Ihre heimlichen Dienste, die sie anboten, waren demnach auch nicht für die Feldarbeiter bestimmt sondern für die Siedler – für eine kleine Gruppe Auserwählter nur, genau genommen, nämlich jene, die am flachen Hang des andern Hügels hausten.
Im Grunde war es der Huren innigster Wunsch, ungestört ihr Leben zu leben, in Ruhe ihren eignen Dingen nachzugehen, und sie taten alles dafür, dass dies in Zukunft auch so bleibe – dass sie weiterhin ihre Tage wie auch die Nächte hier oben im Wald verbringen konnten, und zwar auf ebenjene Weise, wie sie es sich wünschten.
Bis jetzt hatte es auch nur selten Probleme gegeben, nur schon deshalb, weil sich kaum einer der Feldarbeiter je getraut hatte, den Wald überhaupt erst zu betreten. Und jedes Mal, wenn dann doch etwas Widerwärtiges geschehen war – wie damals, als eine der Huren bei Einbruch der Nacht den Wald verlassen hatte, abgestiegen war zu den Äckern, um diese zu überqueren und auf die andre Seite zur Siedlung zu gelangen, da wurde sie von den dreckigen Blicken eines vereinsamten Feldarbeiters erfasst, wurde von seinen groben Händen gepackt und daraufhin unter seinem wuchtigen Körper begraben und jäh misshandelt –, so hatten die Huren immer einen Weg gefunden, dies Problem, wenn auch auf etwas eigensinnige Art, dafür schnell und unbemerkt aus der Welt zu schaffen.
«Trink noch einen Schluck, Maurice», sagte Marie.
Wieder nahm sie die Schale in die Hand und sie drückte sie dem blind Spielenden an den Mund.
Der Tee war unterdessen abgekühlt, also dass Maurice mit aufrechtem Oberkörper, von hinten durch Maries nackten Busen gestützt, dankbar ein paar grosse, kräftige Schlücke in sich aufsaugte, schluckte, dann kurz nach frischer Luft schnappte, um sogleich den Rest – es schien ihm, als sei der Inhalt der Schale beinah unerschöpflich – seine Kehle hinuntergekippt zu bekommen.
«Mein Freund, erzähl mir! Was war geschehen?», fragte Marie. Doch Maurice schüttelte den Kopf, und er antwortete nur: «Ich will nicht. Nein, ich will nicht.»
Vor vielen langen Jahren hatte es sich zugetragen, dass Maurice seine Schwester verloren hatte. Von einem Tag auf den andern, kein Zeichen hatte darauf hingedeutet, war sie verschwunden ohne Ankündigung, hatte sie Maurice verlassen ohne Abschied, war fortgegangen, wer weiss wohin, und war nie wieder zu ihm zurückgekehrt.
Sagen und Legenden geisterten seither in der Anstalt herum und kursierten unter den Arbeitern auf den Feldern. Erklärungsversuche und Theorien für Maries unerwartetes, plötzliches Verschwinden wurden wie auf einem Markte feilgeboten – ja, sogar Prophezeihungen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, viele davon erschreckend und absurd, und sie machten Maurice Angst, also dass er eines Tags begann, seine Ohren aus Selbstschutz vor diesen zahlreichen Gerüchten zu verschliessen.
Da war einer – hatte jemand erzählt –, der habe behauptet, man könne, wenn man des Nachts aus den Fenstern der Anstalt schaue, und wenn der grosse, äussere Mond gerade hell erleuchtet hoch am Himmel stehe in seinem Zenite, der kleine innere aber sich aus Angst verstecke, dann könne man, wenn man genau hinschaue, aus der Ferne am Waldrand oben eine Hexe sehn, und wie diese ihre bösen Kräuter pflücke und in einem hübsch geflochtnen Korbe sammle.
Dieser Jemand habe sogar gemeint, er habe Marie dabei erwischt, wie sie am Tage einen Tee getrunken habe, ohne ihr Wissen gebrüht von jener Hexe aus ebenjenen Kräutern – gebrüht mit dem siedenden, dreckigen Wasser der Wälder, bevor dieses geheiligt wurde – ja, zubereitet von einer eifersüchtigen Spinne in Gestalt eines jungen, schönen Mädchens, welches sich durchaus noch immer unter uns befinden und dessen Anziehung ein Mann kaum widerstehen könne –, und daraufhin sei Marie von innen her verbrannt, sei veräzt, sei, ohne dass sie es selbst gemerkt hatte, in der Nacht stark gealtert und dann langsam zu Knochen und Staub zerfallen.
Ihr Geist aber lebe weiter, selber jetzt als Hexe – als Spinne – im Wald, behaupte der erste, hatte der zweite erzählt.
Ein andrer wiederum hatte Maries Verschwinden auf folgende Weise zu erklären versucht:
«Es ist völlig klar, was sich in jener scheinbar rätselhaften Nacht zugetragen haben musste.
Jeder von Euch weiss, welch aussergewöhnliche Begabung diesem Mädchen Marie von allen hier zugesprochen wurde. Daher dürfte es eigentlich niemanden verwundern, dass dies eingebildete Geschöpf sich nun früher oder später der nackten Realität stellen, der unausweichlichen Wahrheit in ihr Antlitz blicken und sich dabei selber eingestehen musste, dass auch sie – all ihrer bisherigen persönlichen Vorstellung und Erfahrung zum Trotz –, dass auch sie nur aus Fleisch und Blut bestehen konnte.
Folglich gibt es für mich nur eine denkbare Lösung des, wie Ihr es nennt, Rätsels.
Maries Geist war krank gewesen, und das bereits seit vielen Jahren. Dass dies so sein muss, konnte man früh bei ihr feststellen anhand des seltsamen Verhaltens, das sie schon als Kind an den Tag legte. Als sie dann in jenem glorreichen Sommer als Einzige ihres Ackers die Akademie besuchen durfte, hatte ihr Genie begonnen, sie schleichend aufzufressen – Stück für Stück und immer weiter, Jahr um Jahr – wie Saturn seine Kinder.
Von Hochmut erfüllt kehrte Marie zurück auf die Äcker und musste dann bald schon feststellen, wie sterblich sie doch ist, wie fehlbar, wie menschlich sie doch war, ja doch: wie allzu menschlich.
Ein Leben nun mit solch zerstörtem Selbstbilde nicht ertragend, blieb ihr kaum etwas andres übrig, als sich in der Stille der Nacht unter eine fahrende, ihr nichts Böses wollende sondern nur fleissig die eigne Arbeit verrichtende Pflugmaschine zu werfen und sich infolgedessen bei lebendigem Leibe bis zur Unkenntlichkeit hin von dieser Armen zerstückeln zu lassen.
Möglich wäre ebenfalls, dass sie sich an einem Baume erhängt hat, und die Vögel haben ihr noch vor dem Morgengrauen beide Augen ausgepickt und auch die Eingeweide – die Leber im Besondern –, während der Rest ihres verendeten Körpers daraufhin von den Wölfen geschnappt und dann gefressen wurde. Oder aber sie hat sich ganz einfach in ein grosses Feuer geworfen und ist zu Asche verbrannt – hat sich auf solche Weise also hingerichtet –, wer weiss?
Auf eine andre Art, jedenfalls, kann ich mir Maries Tod nicht vorstellen, kann und will ich mir nicht erklären, wie es sein kann, dass sie doch, ohne jegliche Spuren, die auf ihre einstige Existenz hinweisen könnten, von einem Tag auf den andern und ganz urplötzlich nicht mehr unter uns war.»
Wie eine Wilde, zuletzt, rannte eine dritte in der Anstalt herum, ganz entgeistert, und sie rief – als sich bald grössere und immer grössere Scharen von Menschen in einem Kreis um sie versammelten –:
«Hört, hört! Meine Brüder und Schwestern, hört! –
Hört, denn ich bringe Euch eine wundervolle Nachricht!
Seht, wenn ich Euch verkünde eine frohe Botschaft, die mir vom Himmel ward gesandt in einem wachen Traume!
Grüne, weite Wiesen – an meinen offnen Händen kitzelte das hohe Gras, als ich Wasser suchend auf Wanderung mich begeben und bei einem tiefen Brunnen rastete. Den vollen Eimer aus der Erde ziehend, spiegelte sich zitternd mein staubiges Gesicht im klaren Wasser. Doch noch bevor ich mein Dürstlein lindern, mein Gesicht vom Schmutz des Tags befrein und meine Seele rein von Sünde waschen konnte, erschrak ich eines fürchterlichen Lärms, der aus der Ferne in meine Ohren drang.
Was es war, meine Brüder und Schwestern? Nicht glaube ich, dass ich es auszusprechen vermag.
In welche Richtung ich auch sah, da lag nur Grün mir zu den Füssen und es roch nach frischem Gras und Blumen. Doch wie ein Hämmern hat’s geklungen, wie ein Schlagen, wie ein Knarrn. Und es tönte, als ob Räder sich verzahnten, eiserne Stangen sich bögen und brächen, als ob Knochen in einem Getriebe bersteten oder gar zersplitterten.
‹Ist denn schon Tag?›, dachte ich zu mir selbst. Aber nein: Es war nicht der Sonnenschein, der mich aus süssen Träumen hatte gelockt.
Nass vor Schweiss fand ich mich in meinem Bette wieder in der Kammer, umgeben von meinen ach so tief und fest schlafenden Weibsgenossinnen, welche gerade ihre eignen Traumwiesen durchquerten. Die Tücher geschwind zur Seite werfend, sperrte ich die Augen weit auf, und ich starrte empor zur grauen, steinernen Decke, die über meinem Antlitz schwebte. Da war ein Lichtlein zu sehn, das vor meinen Augen glomm, ein Lichtlein so zart, das durch das hohe, schmale Fensterchen – an der Wand zu meinem Haupte gelegen – drang und über mir strahlte, über mir funkelte, fröhlich und hoffnungsvoll zitterte, über mir tanzte und spielte.
Am ganzen Leibe vor Kälte schlotternd, stand ich mit nackten Füssen nun auf der Matratze, und ich zog mir das braune, nasse, an meinem kalten Körper klebende Nachthemd über die Ohren. Es war ruhig und still. Ja, friedlich sogar.
Hier und dort, als ich mich umsah und -hörte, ein schwaches Schnarchen, ein sanftes Schnaufen nur, ein leises Quietschen – doch weiter nichts. Keine Augen, die mich aus der Finsternis heraus massen.
So blickte ich alsdann durch den schmalen Spalt, geradeaus durch die dicke Mauer aus Stein, durch das Fenster hindurch nach draussen in die schwarze Nacht und direkt hinein in dies grelle, gelbe Licht. Auch kein Mond war es gewesen, der mich aus dem Schlafe hatte gerissen.
Nackten Leibes schritt sie dahin in diesem Lichte; hellen, weissen Leibes hinweg über die brachen Felder. Ich sah sie, als hätte sie unsre Welt erst eben betreten, doch mit langem, schönem Haar, das ihren ganzen Rücken bedeckte und im Schein des Lichts bläulich schimmerte. Als sie stehen blieb, presste sie ihre schlanken Beine nah aneinander, und über ihrem Hinterteil, das süss und zart glänzte wie eine reife Pflaume, schwebten die Spitzen ihres wundervollen schwarzen Haars.
Sie hob ihre Arme, spreitzte sie seitlich von ihrem Körper ab, und breitete diese aus, zum Abheben bereit, wie zwei Flügel. Als sie nun ihr Haupt hängen liess, begann die Erde unter ihren ausgestreckten Armen zu stäuben, und schwarzes Blut tropfte der Jungfräulichen von den Handgelenken, schwarzes Blut, rein wie ein Öle glitzernd, floss auch zwischen ihren Schenkeln hinab und zu Boden nieder, wo das Blut die braune, hell im Lichte flackernde, trockene Erde tränkte. Und dieselbe Erde, schwarz getüncht, ward auf einmal von einem starken Winde, der jetzt plötzlich von dies Mädchens Händen auszugehen schien, aufgewühlt, ward aufgewirbelt und wie von einem kleinen Sturme fortgeblasen.
In jenem Moment geschah, was ich als Wunder zu erachten mir erlaube, dass nämlich dies Wesen vor meinen Augen den Boden verliess, vom Grunde abhob, über der Erde schwebte – und ich sah, wie sich Marie in einen Engel verwandelte, in eine eiserne, silbern blitzende Maschine, die Arme ausgebreitet wie zwei schwere, kostbare Flügel aus Silber – und diese Maschine machte einen höllischen Lärm, ein Sägen und Kreischen ging von ihr aus und sprach zu mir, nahm Kontakt auf zu meinem innersten Wesen, sprach zu meinem Innern mit dieser unbeschreiblich klaren, unendlich kalten, gefühllosen, doch umso viel weisern Stimme!
Ach! Wenn ich Euch die Botschaft doch verkünden könnte, wie der Engel sie mir verkündete, auf jene Weise, mit seiner Stimme! Doch nur ein Engel spricht mit solch erhabner Stimme!
Ich vermag’s nicht, Schwestern… ich vermag’s nicht, Brüder, aber wisset: Nur, weil ich’s nicht vermag, ich Sterbliche, ’s nicht vermag, ist’s nicht minder die Wahrheit, die ich Euch bringe.
So glaubet mir doch und sehet selbst! – Höret von mir! Glaubet selbst! Und sehet!
Über meinem Kopfe schwebend – ich weiss nicht, ob in meiner Kammer oder ob ich draussen im Felde lag auf dem sandig weichen Boden, es war alles so verschwommen und hell –, sprach Marie zu meinem kindlichen Ohre, bevor sie mich verliess, und leise erklärte sie mir die Welt.
Sie sprach von Ursache und Zufall, von Zufall und Wirkung; wie alles begann – wie alles ward – wie alles enden wird.
Sie erzählte, wie das Weltall einstmals kleiner war als mein Augapfel, kleiner war als der kleinste Samen einer Blume; und wie es gleichzeitig heisser war als das heisseste Feuer auf Neu-Erden, heisser brannte als alle Sonnen zusammen im ganzen kalten Weltall brennen!
Sie sprach, von wo wir herkamen: von der Alten Welt – von der Neuen Welt – von tausend Neuen Welten; sprach vom Guten und vom Bösen, von Gärten und von Wüsten, von Liebe und Hass; leise flüsterte sie mir die Magie des Schönen zu, hauchte mir die Magie des Hässlichen ins Ohr, sprach vom Gifte der Habgier, vom Gifte des Neides, von dem der Unterdrückung, von Wollen und Macht.
Sie sprach von der Teilung der Sinne, von der Teilung des Wissens, der Teilung des Geistes, der Sprache und der Farben; von der Einheit des Zweifelns sprach sie, von der Einheit des Glaubens und dessen Teilung, von Frau und Mann und Kind, von Mensch, von Tier, von Pflanze, ja, von der Teilung des Grossen Lebens in viele kleine Leben, in Menschenleben, in Tierleben, in Ich- und Du-Leben, in Pflanzen-, Blumen-, Fluss- und Steinleben.
Und auf einmal vermochte ich die Welt in ihrer Ganzheit zu verstehn, vermochte ihre unendliche Schönheit und ihr tiefes Geheimnis in meine kleine Seele aufzunehmen, in dies wartende, forschende, doch so kümmerlich kleine Gefäss.
Mit eisern scheppernder Stimme sprach der Engel zu mir:
‹Schau her! Siehst du denn nicht dies Schiff fliegen und am Himmelszelt drei Kreise ziehn? Dicht schwebt es unter den tausend bewohnten Sternen, und es wartet auf meine Ankunft, denn aus einer alten Welt kam ich her, aus einer andern, längst zerstörten Welt – und in diese gedenke ich, einst zurückzukehren.
Zerstört wurde meine Welt durch Menschenhand, durch dunkle Menschengedanken, durch verachtendes Menschengespräch; zerstört wurde sie vom Neid derer, die niemanden zu beneiden hatten – von ihrer Eitelkeit und Habgier – und die selbst immer hatten, doch nimmer davon satt wurden.
Von allen zerstörerischen Kräften aber fügte ihr am meisten Leid die Menschenfaulheit zu, diese Bequemlichkeit, diese faulig falsche Behaglichkeit, jedweder Seele innewohnend, die hinterlistig auch das bequemste aller Leben in schwerste Last und unerträgliche Qual zu verwandeln weiss. Millionen unterdrückter Hände halfen ihr, dieser Faulheit, und das war das Schlimmste an ihr: dass sie sich helfen liess von hungernden, bettelnden Händen.
Ja, diese schreckliche Welt war meine Welt, war meine Heimat gewesen und ist es immer noch. Denn im Grunde liebe ich sie.
Schau her, das Schiff! Mit seinem Bug wird es bald das Weltall verbiegen zu einer Kugel; zu einem tiefschwarzen, bunt glitzernden Tropfen wird das All sich formen, zu einer wundersamen, selten wertvollen, kostbar seltenen Murmel. Ach! Wenn ihr doch bloss den Wert der Welt verstündet, für einmal mit euerm Herz und nicht nur mit eurem Verstande!
Dann nämlich, wenn die Zeit reif ist wie die Früchte an den Sträuchern und Bäumen im Sommer, wenn ein Bach fliesst, dann werde ich den Himmel in zwei Hälften teilen, werde mit allen, die sich mir anschliessen, eine Reise beginnen und den Riss hindurch in meine Heimat kehrn zurück zu meinen alten Wurzeln.›
Dies waren die letzten Worte, die ich vernommen, noch bevor ich, das Morgengrauen trotzend, in einen tiefen, leeren Schlaf gefallen war.
Erwachet, Schwestern! Erwachet, Brüder, und seht!
Wie dieser Engel, so sind auch wir Gefallene! Ich und Du: Teil des Grossen Lebens.
Doch ehe wir gänzlich zu Knochen zerfallen, zu Asche sterben und zu Staub hin streben, müssen wir auf ein Neues aus unsren eigenen Trümmern auferstehn!»
Als Maurice zum ersten Male der Nachricht gelauscht und ihre Botschaft vernommen hatte, da war ihm ganz eng ums Herz geworden, und die ganze Zeit lang war ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Am Ende, als das Mädchen ihre Rede beendet hatte, spürte er einen dicken Kloss tief in seinem Halse sitzen, und er dachte darüber nach, wie diese ‹Alte Welt›, welche die Prophetin hatte offenbart, vor ihrer einstmaligen Zerstörung wohl gewesen sein mochte. Was die Prophezeihung anbelangt, so war es kaum verwunderlich gewesen, was dieses Mädchen bald erwartete, dass nämlich auch sie, keine Ausnahme darstellend, aller Propheten Schicksal zu erleiden hatte.
Anders als viele seiner Kameradinnen und Kameraden konnte Maurice selbst keine Antwort finden, wusste niemandem eine Erklärung zu geben auf die allseits widerhallende Frage nach seiner Schwester Verschwinden. Wie oft er auch darüber nachdachte und grübelte, in seinen Erinnerungen forschte und wühlte, nach Andeutungen und Hinweisen grub und suchte: je mehr er sich anstrengte, desto weniger schien alles einen Sinn zu ergeben.
Da war nichts, keine Spur war da, die ihm hätte helfen können, jenen sein ganzes Dasein erschütternden Vorfall zu ergründen, ihn zu verstehen, geschweige denn ihn zu verarbeiten. Alles, was er finden konnte, waren traumhafte, vage Ahnungen und sich gegenseitig widersprechende Fetzen von Gefühlen und Gedanken.
Eines Tages dann, um nicht an der Vorstellung einer ihn im Stich lassenden Schwester zu Grunde zu gehen, und auch, da ihm kein Zeichen bekannt war, welches auf das Gegenteil hingedeutet hätte, hatte er, Maurice, als ihr Bruder Marie für tot erklärt, und er hatte aufgehört, nach ihr zu suchen, hatte gleichzeitig jede Hoffnung aufgegeben, ihr jemals wieder, in ferner Zukunft erst vielleicht, zu begegnen, ihr in die Augen zu blicken und sie sich gegenüberstehen zu sehen als einen lebendigen, aus Fleisch und Blut gemachten Menschen.
«Du würdest sie nicht mehr kennen, schon so lang ist’s her», bemerkte die Hure, weniger als Frage denn als Erkenntnis.
Maurice nickte, schweigend sein Gesicht in ihren Busen begraben und am ganzen Leibe zitternd, in ihren Armen still Tränen weinend.
Versunken in seine Welt horchte er dem Pochen in Maries Brust, ihrem Puls und Herzensschlag, und er horchte dem Knacken und Knistern des Feuers, das beständig seinen Rücken wärmte und sich mancherorts bereits zu einer schummrigen, roten Glut gelegt hatte. In seine heissen, feuchten Tücher gehüllt, ward er jetzt wieder auf den steinernen, mit Sand besäten Boden niedergelassen und ganz sanft neben die versiegenden Flammen hin gebettet.
Wie zwei Geschwister schauten sie einander an – die Hure und der Jüngling, die Seelenblickerin und der Feldarbeiter –, während die Glut in Maries Augen funkelte, während in Maurices vor Nässe glänzenden Augen die Glut glitzerte, bevor er seine Lider schloss. Von oben herab betrachtete sie sein verzerrtes Gesicht, betrachtete die zusammengekniffenen, blauen Lippen. So rot und heiss, wie zuvor nur seine Wangen geglüht, glühte jetzt auch die Stirn, und zwischendrin, zwischen Stirn und Wangenknochen, traten feucht und geschwollen seine geschlossenen Augen hervor.
«Gerne möchte ich noch eine Kleinigkeit von dir erfahren, junger Mann», sprach die Hure in zartem Tone zu dem Jüngling. «Es ist wichtig.»
Sie wartete, auf dass Maurice ihr seinen Blick schenke, doch dieser lag ohne Regung da.
«Ich möchte wissen», fuhr sie dennoch fort, «was so einer wie du um diese Zeit hier oben in den Wäldern verloren? Ja, was er denn zu finden sich erhoffte?»
Langsam erweichten Maurices Lippen aus ihrer Starre, langsam begannen sie, sich zu bewegen, zu zittern, und er versuchte, den Kiefer zu entspannen, ihn zu lösen, ihn infolge zu öffnen – was den Jungen viel Kraft zu kosten schien.
Ein Hauch entwich dem Jüngling; ein Keuchen entfloh seinem Munde über die blutigen, aufgesprungenen Lippen hinweg. Gerne hätte er ein Wort gesprochen, der Geschwächte: doch das Einzige, was aus seiner schmerzenden Brust, aus seiner stechenden Lunge trat, war ein zarter Luftstoss gewesen.
«Ich sehe», sagte die Seelenblickerin voll Fürsorge. «Du hast heute Nacht viel geleistet. Es gilt, nicht leichtfertig mit der Seele umzugehen, denn sie ist kein Spielzeug. Ruh dich aus.»
Maurice wirkte ganz, als sei er gelähmt. Die Hure liess ihn liegen und begann unterdessen mit einem Stock, der neben dem Feuer lag, leicht in der Glut zu stochern. Leise vernahm sie nun ein Wort, leise und kaum hörbar erreichte dieses, aus des Jünglings Mund gehaucht, ihr Ohr:
«Durst…», flüsterte er.
«Maurice?», sagte sie.
«Durst… Durst…»
«Maurice?… Maurice?…»
Sie stocherte weiter, schneller diesmal – stärker und heftiger diesmal –, also dass die Flammen aufloderten und zur Decke hin sich streckten.
«Starker… kaum überwindbarer… … Durst!…», keuchte er, «…hatte mich aus dem… Schlafe getrieben und… mich hierher… … zu dir… geführt.»
«Ich weiss!», sprach sie. «Doch das kann nicht alles gewesen sein!»
Flüsternd und immer wieder schwer schluckend erzählte er ihr, wie er einsam am Ende des Korridors vor der einzigen, ihm nicht verbotenen Quelle der Anstalt hatte gestanden, wie er diese vorgefunden, so ganz trocken, leer und versiegt, und wie er sich dann aufgemacht hatte, nach der Quelle im Walde zu suchen, von der er einst gehört, von der schon oft gesprochen und erzählt, gemutmasst wurde, ja, von welcher man zu wissen glaube, sie sei der Ursprung aller Quellen, sei folglich auch der Ursprung der seinen und der des geheiligten Wassers, bevor dieses geheiligt würde.
Da begann Marie zu kichern – ja, da musste die Hure, als sie dies hörte, laut lachen –: nicht aus Bosheit aber, sondern weil sie den Gedanken so sehr hübsch und schmeichelnd fand.
«Ha! Mein Lieber!», sagte sie mit roten Wangen jetzt und einem hellen Strahlen auf ihrem Gesichte, «da bist du aber falsch hier», während sie weiterhin in der Glut stocherte. «Nichtsdestoweniger hoffe ich, dass wir dir gute Dienste erweisen konnten.»
Sie legte den Stock beiseite; Maurice wirkte ganz, als sei er am Träumen.
«Vor allem», sagte sie, wobei sie ihm mit der freigewordenen Hand über die Stirn strich und ihn ansah, «vor allem aber hoffe ich, dass du bei mir gefunden, wonach du in Wirklichkeit gesucht hattest.»
Wie die Zungen einer zehnköpfigen Schlange zuckten indessen die Spitzen der Flammen zur Decke empor.
«Vielleicht», fuhr sie flüsternd fort, «ja, vielleicht es aber so richtig erst finden wirst, wenn du dazu bereit bist.»
Da schlug Maurice bei Maries Worten die Lider auf, und auf einmal schienen nun daselbst in seinen sprechenden Augen die wild gewordenen Flammen zu brennen. Ohne seinen Blick jedoch auch nur kurz der Hure zu schenken – knapp sah er an ihrem Antlitz vorbei –, schloss er sie wieder, und er versank indes in seine Welt und in ein langes, tiefes Schweigen.
Marie legte sich zu ihm hin auf den Boden. Mütterlich und voll Mitgefühl drückte sie sein Haupt an ihre Brust, und eine Weile lang streichelte sie so sein dichtes, schwarzes Haar. Als sie dies tat, da spürte sie plötzlich an seiner Schädeldecke etwas Rauhes, und über dies Rauhe fuhr sie mehrere Male mit den Fingern nun hin und her.
Nur mühselig konnte Maurice seine Arme aus den engen Tüchern befreien; er griff nach Maries Handgelenken. Mühselig auch war es, als er jetzt versuchte, sich des weissen Kokons, der ihn schon lange Zeit dicht gefangen gehalten, gänzlich zu entledigen.
«Möchtest du nicht diese Nacht hierbleiben?», sprach die Hure, nachdem der Junge sich aus den Tüchern befreit und sich aufgerichtet hatte, sein Gesicht jetzt ganz nah dem ihren war, und sie sich gegenseitig in die Augen blickten. «Es ist schon spät, du kannst also unbesorgt sein. Um diese Stunde wird wohl keine neue Kundschaft mehr eintreffen.»
Maurice hatte seine Fäuste um Maries Arme gelöst. Leicht berührte er nun mit den Fingerspitzen von unten ihre Handflächen, während er von oben her ihre Hände mit den Daumen festhielt.
«Die andern beiden werden sich bald schlafen legen. Ist alles aufgeräumt, so wird auch hier endlich Stille einkehrn; du wirst schon sehn!»
Indessen hatte sich das Feuer wieder ein wenig gelegt, und in den vier Augen spiegelte sich blutrot die schummrige, dunkle Glut.
«Schau da!», sprach Marie, «du kannst in meinem Bett schlafen. Frisch ist es und unbenutzt. Als einziges ist das meine heut Nacht noch frisch und unbenutzt.»
Maurice schien etwas gestärkt zu sein. Neben ihm, über der Glut, hing noch immer der eiserne Kessel, in dem das Wasser stets brodelte, vor sich hinblubberte und kochte. «Ich danke dir», sagte er, als er jetzt aufstand und Maries Hände dabei sachte auf ihren Schoss gleiten liess.
Auf seiner Brust brannte es – ihm wurde schwindlig – in seiner Brust stach es – ihm wurde beinah schwarz, und im Magen machten sich Krämpfe breit.
«Langsam, langsam, mein Lieber!», sagte sie; schnell stand sie auf, ihn zu stützen. «Komm! Und gib mir deine Hand: Ich werde dich führen.»
Doch Maurice konnte nicht, Maurice wollte nicht, konnte keinen Schritt tun.
«Nein», sagte er, als er sich von ihr losriss.
«Nein?», sagte sie.
«Nein!»
«Maurice», sagte sie, «ich bitte dich.»
«Ich kann nicht», erwiderte dieser.
«Warum kannst du nicht?»
«Ich kann nicht», erwiderte er erneut.
«Warum?», fragte sie erneut, «warum denn kannst du nicht… kannst du nicht mein Gast sein?»
Noch bevor aber Maurice ein weiteres Wort gesprochen hatte, hatte sie bereits verstanden, was in ihm vorging. Einen Moment lang hielt sie inne; dann nickte sie.
«Ich kann nicht», sagte er, und er erklärte:
«Vor der Morgenröte noch muss ich zurück in der Anstalt sein, denn man erwartet mich dort. Morgen früh nämlich, wenn die Sonne aufgeht, beginnt ein grosser Tag, ein besondrer Tag beginnt für mich sowohl als auch für meine Mitmenschen. Es soll der Tag werden, an dem über meinen Sommer entschieden wird; der Morgen ist es, der über unser aller Sommer entscheidet.»
Obgleich sie selbst hier oben abgeschieden lebte und weder ihre Welt geschweige denn ihr täglich Leben mit den Feldarbeitern teilte, verstand die Hure sehr gut. Es war eben dies die grosse Gabe der Huren. Es war das Geschenk, das sie der Welt und den Menschen zu geben hatten – hätten jene doch bloss, ihres eignen Wohles Willen, sich des Öftern dazu entschlossen, dies Geschenk auch anzunehmen.
«Wie es dir beliebt», sagte sie. «Gegen deinen Willen also kann ich dich unmöglich hierbehalten.»
Sie half ihm in sein braunes Nachthemd, das unterdessen am Feuer getrocknet war, und reichte ihm noch zur Stärkung für seinen Abstieg ein Stück Brot, alsdann Maurice sich dankbar von den beiden andern Huren zuerst verabschiedete.
«Eine letzte Frage», sagte er, «wenn du mir erlaubest.»
Soeben hatte er sich zu Marie umgewandt. Er stand draussen vor der Tür im rötlich glitzernden Schein auf dem weichen Waldboden und umgeben von hohen Tannen, wilden Sträuchern und allerlei Geäst. Aufmerksam hörte sie ihm zu, und so fuhr er fort:
«Kaum scheint es mir möglich zu sein, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal geweint hatte. Es muss gewesen sein, noch bevor ich verstand, dass ich von nun an alle meine Wege allein beschreiten würde.»
Erwartungsvoll blickte er hinein in dies grelle Licht, das aus dem Hause drang, und er betrachtete die Silhouette Maries, die sich wie ein schwarzer Schatten vor dem gelb leuchtenden Tore abzeichnete, mit den Beinen nah beieinander und den Armen zur Seite hin weit ausgestreckt, sodass sie mit den Handflächen beidseits den Türrahmen berührte.
«Und die Frage?», fragte Marie.
Maurice aber schwieg.
«Leb wohl!», sprach die Hure nun. Ihre Augen waren bereits in der Dunkelheit verborgen und nur schwerlich noch zu sehen. Als sie die Tür schloss, ganz langsam, und dabei den Jüngling durch den Spalt beständig anzublicken schien, da glaubte Maurice jetzt, einen leichten Luftstoss zu spüren.
Auch er, der Jüngling Maurice, der Feldarbeiter Maurice, wollte sich aufmachen, ins Leben zurückzukehren, in das seine. Und als er die braunen Baumstämme vor sich stehen sah, sie betrachtete, da wurde es langsam immer dunkler um ihn herum, bis am Ende – allmählich verschwand auch das rote Glitzern – bis am Ende das Licht vom Hause der Huren versiegte, und er im Wald, in dessen Finsternis, auf dem Wege zu seinem Untergang verschwand.
ENDE
DER LESEPROBE
mf.