Auf und ab Wegen

Ein Prosagedicht von Marco Furgler, entstanden im Oktober 2018–Januar 2019.

I

Unter Kindern weilte ich einst, kindesgleich, als ein Weg ward uns geschenkt.

Als ich sprach die Sprache des Kindes, als ich spielte das Spiel des Kindes, da wandelte ich auf ihm sodann.

Als ich sang das Freudenlied des Kindes, und als ich weinte die Tränen des Kindes, da wandelte ich auf ihm sodann.

Gerade war der Weg und schmal, ihm zu folgen ein Gebot, und er führte auf ein fern gelegenes Ziel hin, so erzählte man uns.

Kaum zu erkennen war das Ziel, doch schien es uns klein und fortwährend sein machtvolles Licht entgegen, so erahnten wir es.

Eben verlief der Weg unter unseren nackten Füssen; gepflastert verlief er aus groben, farbigen Steinen, die sich warm anfühlten unter der Frühjahrssonne.

Manch schöne Blume spross zwischen den Steinen, und manch sonderbares Wesen verbarg sich in deren kühlen Schatten: Würmer, die sich durch das feuchte Erdreich wanden, Spinnen und Käfer, die vor unsren forschenden Händen flohen, als wir die Steine hoben.

Die Blumen blieben, wir banden Kränze aus ihnen, und auch die Würmer blieben – nicht flink, doch rätselhaft genug waren sie: so teilten wir sie entzwei.

Nebeneinander sassen wir, Hand in Hand schritten wir, Jahr für Jahr, voran und – spielend auf der Wiese, auf der die Kühe weideten, täglich, wo die Schafe weideten – dem Ziele entgegen auf diesem, unserem Weg; und bis die Nacht anbrach und der Schlaf uns träumen machte, versteckten wir uns im hohen Gras, das den Weg säumte, unter den Sternen: von grosser Ferne her blinzelten sie, doch näher schienen sie als unser gemeinsam Ziel.

Einst weilte ich unter den Kindern, und ich träumte mit ihnen, eine kurze Zeit nur, wenn man bedenkt. –


II

Unter Jugendlichen weilte ich einst, eines Jugendlichen gleich, als ein Bach ward uns gegeben.

Als ich redete den Dialekt der Jugendlichen, als ich teilnahm an den Spielen der Jugendlichen, da erfrischte ich mich in ihm sodann.

Als ich sang das Kampflied der Jugendlichen, und als ich ertränkte meine Tränen am Fasse der Jugendlichen, da erfrischte ich mich in ihm sodann.

Stark war dieser Bach und schön, in seinem Strome massen wir unsere Kräfte, und wir labten uns an unsren strammen Leibern; folgte man ihm, und liesse man sich treiben von ihm an seinen tiefsten Stellen, dann gelangte man an unser gemeinsam Ziel durch ihn, so verhiessen sie uns.

Schwer zu erkennen war dies Ziel, doch funkelten uns durch die hohen Halme schwach und fortwährend seine machtvollen Strahlen an, so verspürten wir es.

Die Zeit verfloss; sie tropfte, wie stark wir auch nach ihr zu greifen suchten, zwischen unsern Fingern hindurch und floss mit des Baches Strom: Seinem Tempo folgte sie und seinen Windungen, seinem Rhythmus, seinem Puls, ja, dem Trommelschlag seines treibenden Rades.

Kaum, dass wir es ahnen konnten, rutschte uns der Boden von den Füssen, als wir erreichten des Baches tiefste Stelle: dort, wo der Bach ward zum Flusse, wurden wir gezogen von seinem mächtigen Strom – wir, die in der Tiefe Treibenden; dort auch verzweigte er sich hundertfach, spaltete sich tausendfach, an tausend kleinen Zungen teilte er sich und unseren gemeinsamen Weg in tausend kleinere Wege, riss uns mit, jeden aber in seine eigne Richtung.

Zuweilen kam es vor, dass ich an Land geschwemmt ward, und ich verdanke es dem Zufall, traf ich doch auf Gleichgesinnte dort: wohl redeten wir nicht gleich, doch verstanden wir unsere Dialekte, alsdann wir manch Stunde verbrachten miteinander und viel lernten voneinander. Einsam aber die Spaziergänge an den Stränden nehmend sah ich zu, wie meine Zeitgenossen auf ihren Flossen und in Booten, im Verbunde gebaut, an mir vorbeizogen. Fremd geworden, nicht minder freundlich jedoch, reichte mir manch einer die Hand, auf dass ich zu ihnen in ihr Boot steige, doch war die Zeit zum Aufbruch für mich noch nicht gekommen. So riss sie der Strom hinfort von mir in die weite Ferne, und ich verweilte, eine kurze Zeit lang, unter meinen Freunden und auf deren unseligen Inseln.

Kaum zu vernehmen waren die Hilferufe derer, die, alleine geblieben, im kalten Wasser trieben: An einem Stück Holz hingen sie, jeder für sich, an morschen Ästen, vom Bau der Boote übrig, hing ihr Leben. Selten sah ich einen, der meisterlich das Holz zu rudern wusste, den meisten erfroren die Hände und erstarrten die Glieder, bis dabei am End die Kraft ihnen versiegte. An den Ertrinkenden drehte ein Rad – gleichsam, wie es an allem dreht, drehte das böse Rad, das am Flusse drehte und das Wasser, in welchem die Rufe des Untergehenden in einem lauten Grollen untergingen, zum Schäumen brachte. Und so hörte ich nichts als dies Rauschen, hörte niemanden, hätte auch niemanden vor diesem Schicksal bewahren können, das ich mir selbst blühen glaubte, wo meine eigne Kraft doch auch nur für einen Menschen reichte.

Sodann stürzte ich mich – dabei wieder und wieder, was mir geschehen war, vergessen machend – in dies kalte Wasser und, mein Gesicht knapp überm Wasserspiegel haltend, versuchte ich, wenn auch nicht frei von Zweifeln, mich treiben zu lassen hin zu einem dieser tausend verheissnen und grossen Ziele.

Einst weilte ich unter den Jugendlichen, und ich reiste mit ihnen, nahm teil an ihrer Irrfahrt, eine kurze Zeit nur, wenn man bedenkt. –


III

Unter Wolken weilte ich einst, mit den Wolken ziehend, als eine Einsicht ward mir zuteil.

Als ich mir selbst der Retter war vor dem reissenden Strome der Jugend, als ich aufbrach zu neuen Wegen, da erquickte mein Herz an ihr sodann.

Als ich den Berg anstieg, atmend die kalte Höhenluft, und als ich mich tragen liess von eisigen Winden, da erquickte mein Herz an ihr sodann.

Hinauf! rief ich. Hinauf! will ich und der Wahrheit in ihr dunkles Antlitz blicken.

Und hinauf, den Berg an, stieg ich wahrlich! Weiter und weiter hinauf auf einer Wolke, bis das ebne Land, das ich eben verlassen, vor meinen nackten Füssen wie ein winziges Spielzeug wirkte.

Vom Wege der Kindheit indes war hier nicht viel zu sehn, doch offenbarten sich mir nun die Bäche der Jugend schon als ein einziger breiter Fluss, der um tausend kleine Inseln floss. So sah ich auch mit schwebendem Verstande jetzt und jener Erkenntnis in meinem Herzen das End der Reise in der Weite vor mir stehn, wo die tausend verheissnen Ziele dort zu einem einzigen Ziele sich verflossen.

Einst weilte ich unter den Wolken, für ein Fragment meiner Zeit nur, wenn man bedenkt, doch bald schon weilte ich wieder unter den Vielen, einen Weg zu wählen, den Weg zu wählen, der jetzt auch mein Weg war.


IV

Unter Erwachsenen weilte ich einst, einem Erwachsenen gleichtuend, als eine Strasse hatte mich gewählt.

Als ich annahm die Sprache der Erwachsenen, als ich mich fügte den Spielchen der Erwachsenen, da stolzierte ich ihrer sodann.

Als ich sang die Klaglieder der Erwachsenen, und als mich mit Hochmut erfüllte die Freude der Erwachsenen, da stolzierte ich ihrer sodann.

Lang war meine Strasse und breit, schnellen Schrittes schritt ich voran auf ihr mit meinen glänzenden, neuen Schuhen und, gleich vielen andern Fremden neben mir, voller Zuversicht, dass diese meine Strasse mich an mein endlich erreichbares Ziel führen wird – so gelobte ich mir!

Klar zu erkennen war mein Ziel, klar und fortwährend, gar kriegeslustig, leuchtete es machtvoll mir den Weg, meinen Weg – so sah ich es!

Über Stöcke und über Steine führte mich manche Male, und auch nur stockend, meine Strasse, durch Wälder hindurch führte sie, wo es den Kies, den gröbsten, erst noch in den Grund zu treten gab; mal ging es auf, mal wieder ab; mal ging ich links, dann wieder rechts – immer aber ging ich den holprigen Weg entlang mit Lärm umsäumt, einem immerwährenden, unaufhörlichen Lärme.

An hohen Häusern vorbei führte mich meistens jedoch, und dann sehr hastig, meine Strasse, durch die grössten Städte dieser Erde führte sie, als dort der Weg für mich und all die Fremden neben mir bereits geteert dalag; mal ging es auf, mal wieder ab; mal ging ich links und die andern rechts – immer aber ging ich die schnellste Strasse entlang und mit Lärm umsäumt, einem immerwährenden, unaufhörlichen Lärme.

Tag für Tag und Nacht für Nacht auch setzte dieser Lärm, diese Unruh, gar in den tiefsten meiner Träume, ihren Samen ab in mein kleines Herz. Nicht lange ging’s, da keimte dieser: über Äste, sich rankend um meine Gedanken, fand er so den Weg zu meinen Fingern und ich streute – als wär ich seine Marionette! – des Tags nun selbst Unruh unter all die Leute.

Auf den weissen Märkten alsdann mein bestes Korn verkaufend ergriff ich einst den Ärmel einer Meute. An ihre Tafel setzten sie mich, zum Mahle luden sie mich und zu ihrem Spiele. Und wie ein guter Schüler schaut ich derweil auch jedem ihrer Züge zu, gehorsam, und niemals in des Nächsten Karten blickend. So kam’s – gleich der Vorbilder, die ich verehrte – wie’s kommen musste: dass auch ich zum begnadeten Spieler ward, der den Mensch für seine eignen Zwecke um den Finger wickeln wusste.

Doch neidlos stets auf meine Genossen geblieben, obschon im Gleichschritt wir all auf dasselbe Ziel hintrieben, wusst ich denn, dass diese Strasse, die meinige, nur mir allein gehörte, so wie die ihrigen ihnen alleine nur gehörten.

Also lernte mein waches Auge jeden Weg zu lieben, mehr noch, aus Respekt, als es meinen eignen liebte, bis mir eines Nachts geschah und im Traume dann, ferner blickend noch und klarer als am Tage, dass es sah und ich erkannt, wohin mein Weg mich führen wird, wohin denn alle diese Wege führten, zu welch bösem Rade.

Einst weilte ich unter den Erwachsenen, und ihnen gleichtuend forderte ich meinen Weg, ein Stück unsrer Erde, mein Glück unter den Sternen – und ich stolzierte ihn. Welch kurze Zeit nur, wenn man bedenkt. –


V

Heute aber schaue ich des Tags zum Fenster hinaus und des Nachts in mein Fenster hinein, denn ich weile nicht mehr unter jenen, die, gleichen Schrittes gehnd, sich durch die Gassen jagen lassen, um Brände zu löschen, die sie selbst entfachten.

Wahrlich, ward ich doch von einer Schlange gebissen und löschte selbst einst Brände. Aber wie vermag der Mensch jen Brand zu löschen, den dies Gift in seinem Herz entfachte?

Wahrlich, ich habe viele Köpfe, doch hatt ich stets nur ein Herz. Heute bin ich erst die Zukunft, aber morgen schon werde ich Euch die Nach-Zukunft sein.

Quer über Wies und Feld stampfe ich. Ich durchforste die Wälder. An den Quellen und Schätzen, die ich find, erfreu ich mich, erfrische Geist und Seele. Und ich bezeichne sie, deute sie, stelle Tafeln auf in dieser Wildnis – für mich, damit ich sie wiederfind, und für Euch, dass Ihr sie entdecket.

Beim Untergang der Sonne bett ich mich unter meinesgleichen und ich mache ein grosses Feuer, denn es brennt mir ein Licht durch die Finsternis, durch all Ungewissheit, die mich umgibt, und es hält böse Tiere fern, so sagt man.

Auch jetzt noch, wenn ich meine Hausberge erklimme, sehe ich von der Höhe aus keine Wege, wo dort noch keine sind. Und trotzdem gehe ich sie.

Einst weilte ich unter den Vielen, und stets glaubten sie zu wissen, was gut für mich sei. Doch weile ich nicht mehr unter ihnen. Und eine lange Zeit noch werde ich so wandeln, frei von deren Banden, eine lange Zeit noch, wenn man bedenkt. ––


Wahrlich: eine – lange – Zeit.


mf.

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