Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Juli–Oktober 2018.
Eines Winters – die Sonne hatte sich noch nicht über die jähen Berge erhoben – führte mich meine Reise zurück nach Berlin. Der Himmel war sternenklar, obschon am Abend zuvor ein Sturm wütete, der die Dörfer und Hügel und die Städte und Berge in eine dicke Decke Neuschnee hüllte. Auf dem See spiegelte sich der Mond weiss und klar, links und rechts einige wenige Strassenlampen und Fenster, deren Schein seine gelben Pinselstriche auf das ruhige, schwarze Wasser malte.
«Wir sind an Land, Captain!», weckte mich der Taxifahrer spöttisch. Offenbar musste ihm meine Augenklappe aufgefallen sein. Ich kramte einige Münzen hervor; zahlte passend; öffnete die Türe weit; steckte beide Füsse in den Schnee; setzte Hut auf und stieg schlaftrunken aus dem Auto. Der Mann hatte bereits den Kofferraum geöffnet und so überreichte er mir meinen schweren, braun-ledernen Koffer, den ich von meinem Vater geerbt hatte und der, bis auf die schwarzen, abgenutzten Schnallen, von aussen betrachtet zwar alt, aber noch immer unversehrt, schien.
Vorsichtig fuhr das Taxi der eisigen Strasse entlang und liess mich mit Koffer in der Linken und Regenschirm in der Rechten zurück. Zum Bahnhof und den Gleisen waren es noch einige Meter. Ich sah dem Gefährt nach, wie es mit seiner leuchtenden, gegen die Sterne zugespitzten Tafel langsam dahinglitt und in der Dunkelheit verschwand. Mühevoll hinkte ich also, den Schirm als Gehstock benutzend, mit meinem schweren Gepäck durch den tiefen Schnee.
Etwa zwanzig Minuten vor der offiziellen Abfahrtszeit erreichte ich den Bahnsteig. Ich stampfte, stampfte, stampfte, links, zwei-, drei-, viermal, doch der klebrige Schnee liess sich nicht von meiner Jeans abschütteln. Die Tafel zeigte mir an, dass mit circa vier Minuten Verspätung zu rechnen sei. Da bemerkte ich eine junge Dame, eingehüllt in einen dicken Pelzmantel – sie schien mich nicht gehört zu haben –, ihren Blick geradeaus auf die frostigen, leeren Schienen gerichtet. Sie erinnerte mich an jemanden, den ich kannte, aus alten, längst vergangenen Zeiten. Sofort, als sie mich ansah, wandte ich meinen Blick wieder von ihr ab. Ihre schwarzen Haare, die sie unter dem Hut versteckte, ihr zartes, weisses Gesicht und ihre strengen, geschlossenen Lippen verrieten eine Schönheit, die, wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbar, ihr in die Wiege gelegt worden sein musste.
Ich stellte den Koffer zwischen uns ab. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass sie mich nun von Kopf bis Fuss musterte. Dann zündete ich meine letzte Zigarette an. In Berlin würde ich mir vielleicht eine neue Schachtel kaufen, dachte ich. Die Asche sammelte sich an der Spitze der Zigarette mit rücklaufender Glut, zwischen zwei Zügen vermischte sich der aufsteigende Qualm mit meinem Atem. Ein plötzlicher Windstoss blies die Asche davon. Die Hälfte landete auf meinem Koffer, die andere Hälfte vor die hohen, polierten Stiefel dieser Frau, die daneben stand. Sie warf mir einen giftigen Blick zu und wandte sich von mir und meiner Asche ab. Lustlos liess ich den Stümmel zu Boden fallen. Ich brauchte ihn nicht zu zerdrücken, die Glut war bereits von selbst erloschen.
Als der kreischende Zug nach einer Ewigkeit ankam, folgte ich der Frau zum Wagen erster Klasse. Es klang, als würde auf die Schienen Dampf abgelassen; die Türe öffnete sich; die Stufen klappten runter, rasteten ein, wir warteten. Kein Mensch kam, der diesen Wagen verliess. Gentleman, der ich bin, liess ich dem Mädchen den Vortritt, sodass, wäre es beim Besteigen der Stufen ausgerutscht, ich es mühelos in meinen Armen hätte auffangen können. Auch hatte die junge Dame Gepäck dabei; es schien jedoch, als könnte sie auf meine Hilfe, die ich ihr anbot, verzichten.
Ich warf meinen Koffer hinein, bevor ich einstieg, und lauschte dabei den langsamen, die Stille durchdringenden Schritten der Frau, die in der Mitte des Wagens stehen blieb. Über ihrem weiten Hut stiegen Wolken empor, denn im Innern des Abteils war es kaum wärmer als draussen. Da erblickte ich am anderen Ende des Wagens ein geöffnetes Fenster, ein schmaler Spalt nur stand offen, jemand musste vergessen haben, es am Vorabend zu schliessen.
Die Dame suchte sich einen der vielen freien Sitze aus, hob ihr Köfferchen hoch, versorgte es auf der Ablage über ihrem Kopf und machte es sich, engehüllt in ihren dicken, warmen Pelz, bequem, unterdessen ich mich ans andere Ende des Wagens begab. Vom Schnee, der des Sturmes wegen eingedrungen war, hatten sich am geöffneten Spalt Eiszapfen gebildet, die der Wand entlang hineinragten. Ich musste auf einen Sitz steigen und mein ganzes Körpergewicht gegen die Scheibe stemmen, damit diese sich schloss, damit das Eis zersplitterte und zu Boden fiel. Dann kehrte ich zur Dame zurück, die mich die ganze Zeit beobachtet haben musste und die, ihre unter dem Mantel hervorschauenden Beine verschränkt und ihre durch schwarze, lederne Handschuhe geschützten Hände übereinander auf den Schoss gelegt, ihr Gesicht, von der weiten Krempe des Hutes nun verdeckt, von mir abwandte und aus dem Fenster schaute.
Neben ihr, auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, befand sich ein Zweiersitz, auf den ich mich, ebenfalls zum Fenster hin, niederliess. Ich hob meinen Koffer auf den anderen freien Sitz, zog die Zeitung vom Vortag, die ich mir für diese Fahrt aufgespart hatte, heraus und schob den Koffer nebst dem Regenschirm unter die Sitze vor meine Füsse. Eigentlich interessiert mich das Weltgeschehen nicht besonders, und so legte ich die Zeitung, ohne sie auch nur wenigstens aufzuschlagen, gleich wieder weg, legte sie dorthin, wo zuvor mein Koffer sich befunden hatte, und verdeckte sie mit meinem Hut.
«Guten Mor… …ne Dame… … Herr… … …», surrte es nervös aus den Lautsprechern, während sich der Zug gemächlich in Bewegung setzte, gleichzeitig ich beobachtete, wie die Scheibe anlief und wie die Lichter der Grossstadt durch das nun leicht trüb gewordene Glas an mir vorüberschweiften, mehr und mehr Fenster der Wohnblöcke gingen an und über dem See war, zwischen zwei Bergen, ein sanftes Glühen zu erkennen, unterdessen der Mond stets gross und hoch über deren Gipfeln thronte.
Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten und wir eine Weile durch das Morgengrauen gefahren waren, zog ich, noch bevor ich zu schwitzen hätte beginnen können, den Mantel aus und hängte ihn an den Haken. Vereinzelte Schneeflocken flogen an die Scheibe, wo sie kleben blieben und dahinschmolzen. Ich klappte die linke Armlehne, die mich nun vom Sitz neben mir trennte, runter, klappte die Armlehne runter, die mich von der alten Zeitung trennte und von meinem treuen Hut, vom langen, schmalen Gang, vom passagierlosen Wagen erster Klasse und von meinem fremden, jungen Mädchen, und ich faltete meine Hände über dem Bauch, senkte meinen Blick zu Boden und beobachtete die Pfütze, die sich gebildet hatte, beobachtete, wie der Schnee, der an meinen Hosenbeinen und Stiefeln geklebt hatte, nun plötzlich nicht mehr da war.
Dann zündete ich meine letzte Zigarette an. In Berlin würde ich mir vielleicht eine neue Schachtel kaufen, dachte ich. Gentleman, der ich bin, liess ich dem Mädchen den Vortritt, sodass, …
«He, was soll das? Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Trost!»
«Verzeihen Sie, Fräulein, bitte verzeihen Sie.»
Ich reichte der jungen Dame ein Taschentuch, doch hatte sie selbst eines dabei, und so schien es, als könnte sie auf meine Hilfe, die ich ihr anbot, verzichten. Sie putzte sich den Stiefel wieder blank und warf mir einen giftigen Blick zu. Gentleman, der ich bin, liess ich ihr den Vortritt und ich schloss das Fenster. Dann kehrte ich zu ihr zurück, zu ihr, die mich die ganze Zeit beobachtet haben musste und die nun, als ich mich schweren Atems ihr näherte, mit der flachen Hand rechts, zwei-, drei-, viermal neben sich, auf den leeren Sitz, klopfte, klopfte – klopfte, klopfte – … Ich blieb stehen. In der Mitte des Wagens zündete ich meine letzte Zigarette an und ich dachte dabei, dass ich mir doch in Berlin vielleicht eine neue Schachtel kaufen könnte, also streckte ich, der Gentleman, ihr die leere Schachtel ins Gesicht und bot ihr – dabei ihre Augen, die tief und dunkel im Schatten der Hutkrempe lagen, suchend – meine letzte Zigarette an, unterdessen ihr strenger Mund im Licht der Bahnhofshalle brannte. Wir standen uns gegenüber – zwischen uns mein brauner Koffer aus alten, längst vergangenen Zeiten. Ich wollte ihre Hände fassen, doch wich sie von mir. Als wäre ich ihr Henker, so sah sie mich an. Mir wurde jedoch schnell klar: «Verzeihen Sie, junge Frau, bitte verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken», und ich wandte mich wieder den Schienen zu, sodass sie meine Augenklappe nicht mehr sehen konnte.
Gentleman, der ich bin, stand ich still – Blick geradeaus, Kinn leicht nach vorn gestreckt, beide Arme, links und rechts, eng am Körper anliegend und die Hände seitlich an die Oberschenkel gepresst.
«Wer sind Sie?», fragte ich. «Woher kommen Sie?»
Der Wind wirbelte den Schnee vom Boden auf und herein in die Bahnhofshalle zu den Gleisen, bei denen wir standen. Ein plötzlicher Windstoss erwischte mich kalt von der Seite, doch rührte ich mich nicht.
«Wieso kennen wir uns nicht?», fragte ich. «Wieso sind wir uns nie zuvor begegnet?»
Jetzt stürmte der Schnee nur so herein und ich musste auf einen Sitz steigen, da der Zug bereits mit vollem Tempo fuhr, und mein ganzes Körpergewicht gegen die Scheibe stemmen, damit diese sich schloss. «Erzählen Sie! Teilen Sie!»
«Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?», fragte die Frau. Ich nahm Platz. Und mit sanfter Stimme bat ich sie, mir ihre Hände zu geben.
«Wozu?»
«Ich möchte eine Verbindung mit Deiner Seele herstellen», sagte ich. «Ich möchte sehen, was Du siehst; fühlen, was Du fühlst; verstehen, was Du verstehst, jetzt, in diesem Moment und in jenem Moment, als wir uns das erste Mal begegnet sind.»
«Was war gestern, was vorgestern?»
«Ja, was hast Du erlebt, was erlitten? Ich will sehen, wie Du ernst die Schienen anblickst, wie Du lachst, wenn ich Dir eine leere Schachtel Zigaretten hinstrecke, dann aber doch weinst, und wie Du sorglos springst mit Deinen Stiefeln und herumhüpfst im tiefen Schnee. Zeig mir, was Du siehst, jetzt, in diesem Moment! Einen alten Mann, vielleicht. Einen Freund?»
Die Dame blickte aus dem Fenster und betrachtete das Morgengrauen. «Bitte lassen Sie mich in Frieden.»
«Gib mir Deine Hand», forderte ich sie auf.
«Nein.»
«Bitte.»
«Nein!»
«Gib mir Deine Hand!», schrie ich.
«Nein!», schrie sie. «Wieso sehen Sie nicht Ihr eignes Gesicht, so wie ich es tue? … Nein! Lassen Sie –»
«Gib mir nun endlich Deine Hand!», schrie ich sie an. «Gib mir Dein Leben! Dein Leben!»
«Lassen Sie mich los! Zum Teufel mit Ihnen!»
Ich sah zum Fenster hinaus. Ich fuhr an Bauernhäusern vorbei, fuhr an Ställen vorbei inmitten von schneebedeckten Feldern, und an einem kleinen Dorf, das eine Kirche hatte, deren Kirchturm beleuchtet war und mir die Uhrzeit anzeigte: Ich war noch lange nicht in Berlin. Dann überquerte ich eine lange, schmale Brücke, die über eine tiefe Schlucht gespannt war und die, als ich darüber fuhr, leicht im Wind zu wiegen schien, und ich sah jetzt, als ich hinunter schaute, mein Gesicht, wie es sich vor dem dunklen Abgrund an der Scheibe spiegelte, und durch die schwarze Augenklappe hindurch versuchte ich, zu erkennen, was sich dahinter verbarg.
PENG!
machte es und
PENG! RATTATTATTAT!
aus dem Nichts heraus.
«Was um –!» Ein stiller Schmerz zuckte quer durch meine Brust.
PENG! PSCHUI! PENG! PCHCHCH…
Ein Schuss, der gefallen war, traf den Soldaten, der nun in die Tiefe stürzte, durchs Herz, unterdessen die anderen Soldaten weiterkämpften, insgesamt zwei Trupps, der eine rechts, der andre links, waren sich gegenüber in Formation aufgestellt, doch standen sie unsicher und wacklig auf ihren Beinen, diese Krieger, nicht die Angst war es sondern der Boden, der unter ihren Füssen in regelmässigen Abständen bebte, ja der Boden war es, der ihnen den nötigen Halt nahm. Es war eng, wo sie standen, ein Schritt zu viel nach links oder nach rechts und einige von ihnen wären in den Abgrund gestürzt. Nur die Fläche zwischen den beiden Formationen war noch frei, dort in der Mitte, wo eine weite Leere klaffte, hatte es genug Platz für alle, und so gab es für beide Truppen nur einen Weg voran und dieser führte sie unausweichlich ins Verderben.
Niemand wusste, was zu tun ist, niemand wagte den ersten Schritt, und so wurde das Feuer auf beiden Seiten eingestellt und die Soldaten rasteten und warteten auf neue Befehle. Auch die Kommandantin beider Truppen, deren glatte, blasse Stirn über dem Gefecht waltete, schien ratlos. Vertieft in ihr Spiel sass sie da im Schneidersitz und eingehüllt in ein Kleid von gehobener Qualität. Mit ihren weissen Socken und ihren polierten Schühchen schien dieses circa vier Jahre alte Mädchen von einem Reichtum umgeben, der ihr in die Wiege gelegt worden sein musste. Sie blickte immerzu auf das Schlachtfeld zwischen uns, und an ihrem sanften Blick vorbei hingen ihre langen, schwarzen Haare, die sie offen trug, hinunter auf die Armlehne neben mir, auf der sich die kleinen, grünen Figürchen aus Plastik befanden und ein Panzer.
Zunächst zögerlich, dann aber tapfer und entschlossen, stürzten sich die Krieger jetzt wieder ins Gefecht, und so fiel ein Mann nach dem anderen:
PENG!
und der linke Trupp verlor einen an der Front,
RATTATTATTATTAT!
und vom rechten gab es einen weniger, der zurück zu seiner Familie kehren würde. Ein Soldat sprang heldenhaft vor seinen Nächsten, um dessen Leben zu schützen, und wurde dabei selbst getötet. Ein anderer mit einem im Kampf zerfetzten Oberschenkel schrie vor Schmerz um Hilfe. Sie kamen, um die Blutung zu stoppen, doch kamen sie zu spät. Die Toten wurden runter in die Schlucht geworfen, um Platz zu schaffen, und dennoch: Die Leere zwischen den zwei sich fremden Gruppen wurde immer kleiner und einige der Krieger sahen keinen anderen Ausweg als den Freitod, dieser schrecklichen Begegnung zu entfliehen. Der sorglose Blick der Kleinen wandte sich dabei keine Sekunde ab von ihrem Spiel. Aber wofür kämpften sie eigentlich? Wogegen kämpften sie an?
Sodann verstummte das Getöse um mich herum; alle Soldaten, bis auf einen, den, so schien es, letzten überlebenden, waren im Kampf gefallen und eine Ruhe legte sich plötzlich, aber endlich, über das Abteil. Nur das Ta Dam – Ta Dam – … des Zuges war, dafür jetzt deutlich, zu hören, begleitet vom immerselben Ton des Pfeifens undichter Fenster.
Das Mädchen hielt inne. Ihren Blick stets gesenkt sah sie auf die Lehne hinab, auf der die Toten friedvoll ruhten und ein Panzer. Dann hob sie ihr Haupt und starrte mir ins Gesicht, starrte mir auf den Mund zuerst, auf die Nase danach, und so trafen sich unsere Blicke – mein Auge suchte die ihrigen, heiss rot und feucht glänzenden – in der Mitte über dem Chaos, von dessen Geburt ich soeben Zeuge geworden war.
Sie griff nach dem Überlebenden; dem Panzer, den der Kämpfer besiegt haben musste, stand er also gegenüber und er blickte in das dunkle, schwarze Rohrloch, unterdessen sie den Mann mit ihren Fingern umhüllte, fest hatte sie ihn in der Hand, ihn fest in der Faust versteckt stand sie jetzt auf und liess dabei nicht von mir ab. Sie stand auf und streckte ihren Arm in meine Richtung, streckte mir die Faust entgegen. Sie stand auf und streckte mir die Faust entgegen, die Faust, die das grüne Figürchen verbarg, die Faust, die sie nun behutsam öffnete. Sie stand auf, öffnete die Faust und mit verfinsterter Miene streckte sie mir den Soldaten entgegen, zwischen Daumen und Zeigefinger hatte sie ihn geklemmt, dergestalt, dass die Spitze des Gewehres sich direkt auf meine Nase richtete. Jetzt machte sie einen Schritt auf mich zu, Augen voller Zorn blickten mich an und sie zielte, in der Manier wie man ein altes Rind schlachtet, mit dem Gewehr zwischen meine Augen, zum Abdrücken bereit stand das Mädchen über mir, als es heftig rumpelte und das Licht im Wagen flackerte und der Zug, Fortuna!, dass er nicht entgleiste, mit einem Ruck bremste und so das Kind vom Sitze warf, dieses zu Boden fiel, in die dreckige Pfütze fiel und sich die Haare wild zerzauste und das Kleid schön befleckte.
Die Leuchtstoffröhren, die an der Decke befestigt waren, blitzten noch einige Male auf, zuckten aus und an, ehe der Zug, erst nur in Stücken und von Stössen zunächst begleitet, unstetig sich in Bewegung setzte, ruckartig fuhr er an.
Das Gesicht der Kleinen war verkniffen, aufgedunsen waren ihre Wangen und rot. Doch stand sie klaglos auf, erst auf den Knien stand sie und sich am Polster abstützend, und strich ihre Hände trocken, bestieg dann den Sitz, von dem sie runtergefallen war, und setzte sich dort oben auf ihren nassen Steiss. Mit dem rechten Fuss klappte sie die Armlehne hoch, sodass auch die letzten Figürchen, die reglos darauflagen, sich auf die Sitze und am Boden verteilten. Das verbleibende Figürchen, das sie noch immer in ihrer kleinen, unschuldigen Hand hielt, nahm sie jetzt ganz nahe an ihren leicht geöffneten Mund heran, an ihre gespitzten Lippen nahm sie es heran, als wolle sie ihm etwas sagen, das ich nicht hören durfte, und sie zielte, die winzige Spitze des Gewehrchens von weiter Ferne zwischen meine Augen gerichtet, unter der Armlehne hindurch, bis ich leise und ganz sanft, wie ein einzelner, verirrter Atemzug des Windes, der durch die Fenster drang, das Flüstern eines Schusses vernehmen konnte. Ich sprang das Miststück an.
Wild geworden strampelte sie mit den Beinen, als ich versuchte, ihr das Spielzeug wegzunehmen, weinerlich und voller Panik war ihr Ausdruck. Dann erwischte sie die Armlehne, die über meinem Kopf schwebte, und sie schlug sie mit einer Wucht, als wollte sie mir mit der Guillotine den Schädel abschlagen, runter auf mein Genick.
«Aaah ha ha haaa… Aaah ha ha haaa…», lachte sie, hell schrie sie, hell und golden strahlte ihre Stimme von ihr ab, verbreitete Wärme, wie eine Sonne war auch ihr Gesicht, das sich hell über mich erhob, als sie aufstand und sprang, in die Luft sprang und hüpfte, hüpfte und tanzte auf dem Polster, stampfte mit ihren Füssen, kreischte vor Glück und verschwand.
Kaum noch lesbar, wenn überhaupt je lesenswert gewesen, lag meine Zeitung am Boden, mit Wasser durchtränkt lag sie unterm Hut und schaute ein wenig hervor, schaute mich an. Ich klappte das Tischchen, das am Sitz vor mir befestigt war, runter, hob Hut und Zeitung auf, hoch in die Luft hielt ich sie, um die Tropfen zu zählen, die hinunterfielen, und sie anschliessend zum Trocknen auf das Tischchen zu legen, das mich nun in meinem Sitz gefangen hielt.
Vom Ende des Ganges her hörte ich das Mädchen ein Kinderlied summen, ganz leise nur war ihr Hüpfen zu vernehmen und das Auf und Zu der elektrischen Türe zum benachbarten Abteil, mit der sie spielte. Ihren Liedern folgte ein Kichern, golden und so zärtlich, wie es nur einem Engel entstammen kann, und als die Lieder gesungen waren und mit der Türe ausgespielt war, horchte ich ihren weichen Schritten, ein Tappen, das derweil immer leiser und leiser wurde, unterdessen das Kichern an Stärke und Klarheit, sich von hinten mir nähernd, gewann.
Die Schritte verstummten. Ihre Stimme verortete ich von hinten, dann von oben, als auch diese verstummte. Eingeklemmt in meinen Sitz und wehrlos konnte ich mich nicht drehen, um nachzuschauen, sogleich spürte ich schon, wie des Mädchens kleine, doch kräftige, Finger sich durch meine grauen Haare wühlten und sich zu einer Faust ballten. Links! Rechts! Links! riss das Kind mit einer Eifrigkeit an meinem Schopf, als wolle es mich skalpieren, als wolle es das Unkraut, das auf meinem Kopf wuchs, das in seinem Garten, wie es sich dies vorstellen musste, wucherte, entwurzeln und vernichten.
Ich griff nach ihrem Fäustchen, das sich ahnungsvoll, ehe ich es fassen konnte, schnell zurückgezogen hatte, und wischte mir die Tränen vom Gesicht, die jetzt auf meiner Hand glänzten. Das Gold kehrte zurück. Es schwebte in der Luft, vibrierte in der Luft und strömte von allen Seiten herbei, abwechslungsweise von links, von oben, von rechts, von unten, bis es plötzlich von überall her zur gleichen Zeit zu strömen schien, zuletzt auch unter dem Sitz hervor, auf dem ich sass, wo es mein Bein packte, nach meinem Hosenbein schnappte und, wie mit scharfen Klingen bestückt, sich tief ins Fleisch bohrte.
«Aaaahhrrr!!» Ich konnte mich dieses, eines Gentlemans unwürdigen Aufschreis nicht erwehren. Schnell weg mit Hut und Zeitung, ich schlug den Tisch hoch, dass er einrastete, fasste mir ans Fussgelenk und fühlte es, fühlte die Nässe, die durch mein Hosenbein drang, sah das Blut rot zwischen meinen Fingern kleben und den dunklen, beinahe schwarzen Fleck um meine Wunde, der immer grösser wurde und langsam an meinem Bein zu mir heraufkroch.
Vergeblich versuchte ich, mit einem Taschentuch die Blutung zu stoppen, als ich das Mädchen neben mir stehen bemerkte und zu ihr aufsah.
«Schau, was du mir angetan hast!», schrie ich vor Wut und ich streckte ihr das rot glänzend durchtränkte Tuch ins Gesicht, so nahe, dass sie es riechen konnte. «Wo stecken deine Eltern, wenn man sie braucht? Den Hintern sollen sie dir versohlen!»
Ihr Kleid war dreckig und nass, braun befleckt an der Seite war es, auf die sie gefallen war, und ihr Arm hing locker daneben, ohne den Fleck zu berühren. Auf Höhe ihrer Hüfte hielt sie den Soldaten, in ihrer Faust verborgen hielt sie ihn so, dass nur die Gewehrspitze zu sehen war und zwischen zwei Fingern ein wenig herausragte. Ihr Gesicht sah jetzt plötzlich älter aus als noch zuvor. Die Glätte auf ihrer Stirn war einer Ernsthaftigkeit gewichen und ihr Lachen verstummte hinter zusammengepressten Lippen. An diesen vorbei liefen vereinzelte Tränen, die sich an ihrem Kinn sammelten, hinunter tropften und verschwanden in dem See geschmolzenen Eiswassers. Wie Steine fielen sie zu Boden und gingen unter, und als das Mädchen sich nun einen Schritt von mir entfernte und mir dabei tief ins Auge blickte, erhob sich seine geballte Faust über sein Haupt, hoch über seinem Kopf schwebte das Gewehr des letzten, noch überlebenden Kriegers und verlängerte seinen Arm zur Decke hin wie ein Zepter.
Sie machte einen Schritt zurück. Dann noch einen. Und noch einen. Und noch einen – und sie holte schwunghaft aus, mit der Faust holte sie schwunghaft aus und sie streckte sie in die Höhe, soweit sie nur konnte, streckte sie nach hinten dann, soweit es nur ging, spannte Arme an und Beine, spannte ihren ganzen Körper an und ihr Gesicht, dass ihr Kiefer sich fast verkrampfte und man ihre Zähne knirschen spürte, und sie zeigte, den Zeigefinger lang ausgestreckt, in meine Richtung, zeigte auf mich und auf mein Auge zielte sie jetzt, fest im Visier hatte sie es jetzt, als sie, den Soldaten in ihrer Faust zerquetschend, mit dem Stachel in der Hand auf mich zurannte und …
All dies wär ihr verziehen. All dies hätte ich, ohne zu klagen, hingenommen und erduldet. Doch die grösste und eigentliche Gewalt, die diese junge Kreatur mir antat, war, dass sie nicht ich war, mit allem, was daraus folgte. Frau, nicht Mann; zart, nicht stramm; jung, nicht alt; warm, nicht kalt; flink, nicht lahm; reich, nicht arm; naiv, nicht weise; laut, nicht leise. Du bist nicht ich und ich bin nicht du. Wir ahnen es. Wir spüren es, erleben es. Wir wissen es. Keine Schuld trifft uns, nicht dafür, und dennoch: Können wir uns das je wiedergutmachen?
Auch er war nun gefallen. Vor Leid vergrub ich mein Gesicht in meine Handflächen, presste es tief in meinen Schoss. Entwaffnet schwamm er im Eis und im Blut, in Gold und Blut. Und das Papier der Zeitung saugte alles auf, immerwährend, in unendlichem Durste. Ich hörte die Lautsprecher surren. Ich hörte Türen und hörte Schritte. Und es war gerade in jenem Moment, als es finster wurde und Donner, Schreie und ein Krachen meine Welt zum Beben brachten.
mf.