Begegnungen: Die Bettkante

Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Dezember 2012.

Kommst du mich heut Abend nach der Arbeit wieder besuchen?» Obwohl sie vielleicht zu müde war, zu mir hochzuschauen, konnte ich doch ihr Lächeln spüren, welches sie unter der warmen Decke verbarg und mir stets mein Zuhause bedeutete. Ich versprach es, setzte mich in einem Akt der Balance auf die schmale Bettkante und legte ihr, mich zu ihr hinunterbeugend und ihren Körper, nur soweit es dafür nötig war, enthüllend, zum Abschied einen Kuss auf die Lippen.


… Nein. – Was tue ich … … halt! was tue ich da? … Was ist bloss in mich gefahren? – – Verdammtnochmal, was ist denn bloss in mich gefahren! Nie im Leben! Nein! … Nein! Nie im Leben! Nie im Leben!! –

So weit darf es nicht kommen …

KLICK!


Behutsam und leise zog ich meinen Schlüssel raus, um niemanden zu wecken. –

Nasses Pflaster, feuchte Erde; weder Mensch noch Tier. Für gewöhnlich genoss ich diese Einsamkeit vor Sonnenaufgang und jene Finsternis, welche, sich an den Bänken und Bäumen des Parks spiegelnd, meiner unmittelbaren Umgebung Leben einzuhauchen vermochte. Doch der kratzige Nebel und die Kälte des Tages schlugen sich nieder auf mein Gemüt, ich lief schneller als sonst Richtung Bahnhof, zu schnell!, schlüpfte auf den Blättern aus und landete mit Gesicht und Händen im Dreck. Ausgerechnet!

«Brauchen Sie Hilfe?» – Der Mensch, dessen Klänge ich eben vernommen hatte, stand schon über mir als ich aufsah, das Neulicht des Mondes abschirmend und wartend …, doch er reichte mir keine seiner beiden freien Hände, vermutlich aus Angst, sie als Folge dieser Geste selber schmutzig zu machen.

«Danke, es geht schon – vielen Dank!», sagte ich, während ich mich mit eigener Kraft versuchte aufzuraffen.

«Sie können hier nicht sterben», meinte der Mensch. Ein Schmerz durchfuhr meine Gebeine, noch bevor ich wieder aufrecht stehen konnte, und ich glitt unhörbar leise zu Boden. Einen Moment lang hielt ich inne, um ihn dann etwas genauer zu betrachten: Sein steinernes Gesicht, dem einer Statue gleichend, bekam, durch das friedliche Mondlicht nun zart erhellt, weichere Farben und klarere Linien; ich wusste nicht, ob ich ihn kannte, erinnerte mich nicht, ihn je gesehen zu haben … und doch waren mir die Züge des Menschen in dieser fast ausnahmslosen Finsternis so wohlbekannt!

«Bitte, helfen Sie mir», ersuchte ich ihn, doch keine Regung, nur Schweigen.

«So helfen Sie mir doch!», flehte ich ihn an, meine dreckige Hand nach ihm ausstreckend; doch er nahm sie nicht, tat nichts, stand nur da wie ein Grabstein, seine Gegenwart für die Ewigkeit beanspruchend und mein Schicksal vor meinen Augen besiegelnd. «Hören Sie mich. Hören Sie mich …» –

«Wie ich bereits sagte, hier können Sie nicht sterben.»

«Siehst du denn nicht, dass ich’s alleine nicht schaffe?!», schrie ich ihn an.

«Ich weiss, ich weiss», gab er mir belehrend zur Antwort, «es ist nämlich eine Kunst für sich, ein Werk im Alleingang zu vollenden; eine Kunst, die ihr Menschen nicht auszuüben versteht. So trotzt also auch das Werk, das Sie Ihr Leben nennen, der Vollendung durch die eigne Hand. – Sie benötigen jemanden, hören Sie, um zu wollen, dazuliegen und zu klagen. Ja, Sie benötigen jemanden, und sei es auch nur, um hier zu sterben.» –

Der eisige Wind trieb mir das Jammern der Bremsen eines ankommenden Zuges ins Ohr, der gerade in jenem Augenblick über die ob mir gelegene Brücke donnerte. «Haben Sie nicht eben auch gehört?», fragte ich den Menschen, worauf dieser mir die Empfehlung gab, aufzugeben.

«… Nein. – Was tue ich … … halt! was tue ich da? … Was ist bloss in mich gefahren? – – Ich darf nicht länger daliegen, so viel Leben ruft nach mir, und ich will doch gar nicht …, aber ich will doch eigentlich gar nicht!», und ich schlug den Schlamm mit den Fäusten und Stiefeln, sodass es nur so um sich spritzte, des Menschen, der mir weiss Gott nur ein Helfer sein wollte, Gesicht befleckend.

«Nun gut», sagte er, nachdem ich in Schweigen versunken war. «Den Sprung, den aber müssen Sie schon selber wagen.» So berührte er mich und ehe das Fluchen der nächsten Bahn verhallt war, stand das wacklige Gerüst meines Körpers aufrecht, dazu bereit, seine Reise anzutreten. –


Dort oben, wo Lärm regiert und die Schienen sich verzweigen, stand ich in der lauen Dämmerung und grüsste den Mond. Ich wanderte, meine Fahrkarte fest in der Hand haltend, den Gleisen entlang bis zum Anfang der Brücke, meinen Blick unentwegt auf das Ende derselben gerichtet. In der unerreichbaren Ferne führten die Schienen hinein in den Schlund eines von der aufgehenden Sonne erhellten Berges – der Quelle des kalten, unter der Brücke hindurchrauschenden Flusses –, der seinen Gipfel nach dem Himmel ausstreckte und diesen mit seiner Spitze berührte.

Ich lief weiter, jeden meiner Schritte geniessend, bis zur Mitte der Brücke, von wo aus ich den Menschen ein letztes Mal zu erblicken hoffte, als mir plötzlich alles wieder einfiel. Obwohl er bestimmt zu steif gewesen war, mir die Hand zu reichen, konnte ich doch sein flinkes Herz schlagen spüren, welches er unter seiner harten Brust vor mir verbarg und mich damals daran erinnerte, dass auch ich ein Mensch war. Um mein Versprechen einzulösen, setzte ich mich in einem Akt der Balance auf die schmale Mauer und warf diesem Menschen, mich nach vorne beugend und meine Brust, nur soweit es dafür nötig war, aufreissend, zum Abschied mein Herz, es in beide Hände nehmend, hinunter in den reissenden Strom.


Meine Seele jedoch stieg, getragen von der warmen Luft eines in der tiefe lodernden Feuers, nun weiter empor und flog, ihre Heimreise antretend, zu ihr.


mf.

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