Novelle
Eine Novelle (Leseprobe) von Marco Furgler, in Bearbeitung.
I
Als ich noch in dem Gebäude da hinten arbeitete – ich gönnte mir grad eine Pause und ging Kaffee holen –, da traf ich auf so einen kleinen, fetten Kerl, der mir zuvor einfach nicht aufgefallen war. Von jenem Tag an aber sah ich ihn ständig, und wie er in seiner eigentümlichen, irgendwie dennoch selbstbewussten Art durch unsre Gänge schlich. Und jedes Mal, wenn wir uns seither über den Weg liefen in diesen Gängen oder sonst wo begegneten, da verspürte ich das merkwürdige, mir eigentlich so fremde Bedürfnis – ja, die innere Notwendigkeit, könnte man fast sagen –, meine Augenbrauen unnatürlich weit nach oben zu ziehen und diejenige Hand, welche sich jeweils gerade näher bei ihm befand, von meiner Hüfte aus in die Höhe meiner Schulter zu bewegen, zu einer Faust zu ballen, zu grinsen, den Daumen in die Luft zu strecken, manchmal aber auch die Hand gänzlich wegzulassen und nur leicht und verständnisvoll mit dem Kopf zu nicken, um diesem ekligen Fettsack sodann seinen freundlichen Gruss – ebenso freundlich, wenn nicht gar noch freundlicher – zu erwidern.
Beim Wasserkühler leerte er einen Becher Wasser… Nein, an seinen Namen mag ich mich nicht erinnern, aber ihr kennt ihn alle bestimmt nicht. Nennen wir ihn der Einfachheit halber ‹F›. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er mir seinen Namen überhaupt anvertraut hatte.
Er leerte also einen ganzen Becher Wasser in einem Schluck… Wie war das? … Völliger Schwachsinn! Idiot. Ich erfinde doch keine Menschen! … Na und? Ich bin wohl nicht der Einzige auf dieser Welt, dessen Name mit ‹F› beginnt. … Gute Frage, warum dann nicht einfach ‹A›? Ja, warum nur? – Dann nenn ich ihn halt ‹A›, wenn euch das lieber ist!
Darf ich jetzt bitte fortfahren? Also …
In einem einzigen Schluck leerte er den Becher runter, während ich ruhig und vorsichtig an meinem heissen Kaffee nippte. Etwas war an seinem Gesicht, in seinem Blick, ich weiss es nicht… an der Art, wie er dastand, an seiner Körperhaltung… … Vielleicht auch am schweissigen Geruch, den er beim Vorbeigehen ausgedünstet hatte. – Ja, lacht nur! Lustig ist das aber nicht, wenn man dieses Problem hat. Ich kenn da einen… aber das ein andermal. – Auf jeden Fall hatte ich den Eindruck, dass er mir von da drüben etwas mitzuteilen versuchte. Ich glaube, er fühlte sich oft allein.
Am Kühler füllte er den Becher nochmals mit Wasser, und wieder leerte er ihn in einem Schluck runter. Langsam trat er jetzt vor die Kaffeemaschine hin, die sich neben mir befand, doch er rührte sie nicht an. Er schien hier keinen Kaffee zu wollen.
Da sagte er plötzlich: «Hi.»
Und ich so: «Hi! Kennen wir uns?»
Und er: «Nein, ich… ich denke nicht, dass ich Sie kenne.»
Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und wühlte darin herum, dass ich dachte, er wolle doch einen Kaffee und ihm fehle vielleicht nur das nötige Kleingeld.
Ich sagte: «Kann ich Ihnen…»
«Darf ich Ihnen…», fiel er mir ins Wort. Wir beide lachten.
Noch immer wühlte er in seinen Hosentaschen. Jetzt aber sagte er:
«Darf ich Ihnen etwas anvertrauen? Wenn… wenn es Ihnen nichts ausmacht, heisst das natürlich.»
Und ich so (zwar etwas überrascht, aber ihr kennt mich ja): «Klar! Nur zu.»
«Okay… gut… danke… … Wissen Sie… Wissen Sie…»
«Wollen wir uns vielleicht zuerst hinsetzen?», sagte ich. Er wirkte etwas nervös, angespannt, ihm schien unwohl bei der Sache. Er also:
«Ja, gerne. Danke. Wissen Sie, es ist mir ein wenig peinlich, das jemandem zu erzählen, aber ich trag’s mittlerweile schon zu lange mit mir herum.»
«Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren. Wir kennen uns ja gar nicht.»
«Ja, ich weiss… das ist es ja eben gerade. Ich kann es keinem Fremden erzählen, keinem Mitarbeitenden auf jeden Fall; also sollte ich es auch Ihnen nicht erzählen. Meiner Familie aber kann ich es erst recht nicht sagen, und so scheint mir dann doch das kleinere der beiden Übel zu sein, wenn ich das bei Ihnen halt nun loswerde… verstehen Sie?»
Wir sahen uns lange an: ich nickte.
Ich ging voran und wies ihn in ein kleines, doppelt verglastes und schalldichtes Sitzungszimmer. In der Mitte des Raums stand ein runder Tisch mit einem Sitzungstelefon. Sogleich, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, nahm ich das Kabel des Telefons in die Hand und ich zog den Stecker. Er hatte sich unterdessen beim Tisch auf einen Stuhl niedergelassen, mit dem Rücken zum quadratischen Fenster hin, das gekippt stand.
«Nun?», sagte ich, und ich setzte mich auf die Tischkante.
Er liess seinen Blick kurz an mir vorbei und durch den Raum schweifen, dann drehte er sich um und klappte das Fenster zu.
Er sah zu mir hoch. Sein Blick senkte sich nun auf die Tischplatte, auf der ich sass, und er sagte:
«Eines Abends, also…»
«Geht es Ihnen gut?», fragte ich.
Kurz schaute er wieder hoch und mich dabei etwas verwundert an. Dann lächelte er.
«Ja, alles bestens, danke.»
«Na dann: nur zu! Bitte.»
Jetzt schloss er seine Augen.
«Eines Abends, also, als alle anderen den hohen Bürokomplex bereits verlassen hatten … », und ihr könnt euch nur vorstellen, wie das von aussen ausgesehen haben muss …
… war es ruhig und dunkel um mich herum geworden. Die rubinrote Schreibtischlampe war das Einzige, was in meinem weiten, leeren Zimmer noch brannte, ihren bläulich-kühlen Schein auf meine zitternden, kämpfenden Hände werfend. Und als am Ende dann auch ihre Kraft versiegte, betete ich, der Verzweiflung über meinen Zustand nahe, dass ich die Nacht, vor allem aber den morgigen Tag, überleben werde.
Seit über einer Stunde schon starrte ich hinab auf diesen brachen, karierten Notizblock, der zwischen meinen Händen lag. Das grelle Weiss seiner Seiten hatte begonnen, mir in den Augen zu schmerzen, und so war ich (für einen Moment wenigstens) froh, in kompletter Finsternis zu sitzen.
Plötzlich verspürte ich da so einen heftigen Schmerz in meiner rechten Hand – sie hatte sich verkrampft, obwohl ich die ganze Zeit lang nichts geschrieben, nichts skizziert, kein einziges Diagramm gemalt hatte –, und ich liess den Schreiber fallen.
In all den Jahren, seit ich angefangen hatte, für diese Firma zu arbeiten, war mein Zeugnis stets makellos geblieben – entsprechend hoch vermutete ich die Erwartungen –, und ausgerechnet morgen früh musste ich dieses Konzept fertiggestellt haben, um es vor der ganzen Geschäftsleitung zu präsentieren, dieses Konzept, dessen Entwurf ich schon seit Monaten vor mich hingeschoben hatte – monatelang! verstehen Sie? – bis zu jenem unausweichlichen Abend, wo es einfach kein Zurück mehr gab.
So fragte ich mich logischerweise, was das wohl, wenn ich mir diesen Patzer nun tatsächlich erlaubte, für meine Karriere zu bedeuten hätte.
Gepeinigt von diesem Schmerz sprang ich also auf, presste, um den Krampf zu lösen, meine rechte Hand, so fest ich nur konnte, mithilfe meiner linken Faust gegen die Tischplatte, und als die Spannung dann endlich nachgelassen hatte, liess ich mich zurück in meinen hohen Sessel fallen.
Ich atmete ein paar Mal tief durch. Unterdessen versuchte ich, meine Augen etwas auszuruhen.
Vor niemandem hätte ich diese Angst, die sich in meiner Brust breitgemacht hatte – so beklemmend, wie sie auch sein mochte –, mir anmerken lassen dürfen: hier und jetzt aber, in dieser Finsternis und Stille, fühlte ich mich verlassen und allein genug – unbeobachtet genug –, um selbst die wüstesten aller Flüche, die mir in den Sinn kamen, auszustossen. Auch übertrug der grosse, autositzförmige Sessel auf meinen Körper ein Gefühl der Sicherheit, und so fühlte ich mich trotz aller Verzweiflung wie ein kleiner Chef – was ich im Grunde ja auch war… Das darf ich schon sagen!
Ja, was das Polster betrifft, so hätte ich mein Leben lang problemlos Chef sein können, problemlos den ganzen Tag hier sitzen können, ohne jegliche Schmerzen zu verspüren. Voraussetzung war, dass man den Sessel und den Tisch richtig aufeinander einstellte.
Langsam, aber sicher gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich merkte, dass mehr Licht in mein Büro drang, als ich gedacht hatte: von den weit entfernten, tief unter mir gelegenen Strassenlampen strömte es in den siebzehnten Stock empor und zu mir herein durch die Fenster; von der Notausgangsbeschilderung und den Telefonen, von Monitoren laufender Computer, die man vergessen hatte herunterzufahren, und vom Snackautomaten und der Kaffeemaschine schimmerte buntes Licht durch die drei Glaswände, spiegelten sich farbige Muster an diesen drei riesigen Scheiben, die mein Büro vom Rest des Stockwerks – von den anderen Büros und den Sitzungszimmern, vom Gang, vom sogenannten ‹Erholungsbereich› und auch vom Bereich mit dem Grossraumbüro – abgrenzten.
So begann ich jetzt, von den mich unmittelbar umgebenden Gegenständen zarte Umrisse zu erkennen:
Der Schreibtisch. Vom Sessel aus betastete ich mit ausgestreckten Armen seine Kante mit den Fingerspitzen. Er, und alles, was sich darauf oder darunter befand, waren das Einzige, was man in diesem Raum als ‹eingerichtet› hätte bezeichnen können.
Der Bildschirm. Gross war er und freundlich zu den Augen, wenn er lief.
Eine ergonomisch geformte Maus, ebenso die Tastatur – nichts Besonderes gibt es hiervon zu berichten – und selbstverständlich ein modernes Telefon mit allem Schnickschnack, eine kaputte (oder vielleicht auch bloss angekratzte) Schreibtischlampe und jede Menge hochwertiger Schreibutensilien einer weitbekannten Marke.
Zuletzt erkannte ich den Umriss des Fotorahmens, der ein Bild meiner Frau und meiner Tochter schützte. Ich hatte ihn direkt neben den Bildschirm gestellt, um das Lächeln dieser beiden Frauen, die – jede für sich – einen unersetzbaren Platz in meinem Leben eingenommen hatten, und den Glanz in ihren vier Augen, wann immer ich arbeitete, gerade noch wahrnehmen zu können. –
Was war das? … Ich glaubte, jetzt etwas gehört zu haben. Ich selbst war ganz still gewesen.
«Hallo?!», rufe ich dann – vielleicht etwas zu schwach und zu leise, zu zögerlich… zu ängstlich!
Ich spüre, wie das Blut vorbei an der Kehle durch meinen Hals gepumpt wird, wie das Adrenalin durch meinen Körper schiesst und mich scharf macht.
Meine beschissene Sehkraft aber reicht noch immer nicht weiter als bis zu den Glaswänden, bis zum Flipchart, dessen oberstes Blatt eine unbedeutende Zeichnung enthält, die schon manch eine meiner Kolleginnen als einen zum Himmel spritzenden, ejakulierenden Pimmel beschrieben hat. Doch das stimmt nicht. Solche Deutungen (dies jedoch – verzeihen Sie bitte den beiläufigen Kommentar – nur so am Rande) zeugen hauptsächlich von einer Sache: mangelnde Fantasie.
Am Boden verteilen sich ein halbes Dutzend Bananenschachteln, die bis zum Rand mit Büchern, Ordnern, mit losen Blättern und Akten gefüllt sind, und gerade vor mir, angelehnt an die Scheibe, die ins nächste Zimmer blicken lässt, steht mein grösstes und zugleich wichtigstes Bild, das ich Mitte meines Studiums, vor etwa fünfzehn Jahren also, selbst gemalt hatte.
Mit Ausnahme dieser und ein paar weniger Gegenstände mehr ist der Raum leer und wirkt entsprechend ungemütlich. Die Tatsache, dass er von allen Seiten mit Glas- und nicht mit bemalten Stein- oder tapezierten Holzwänden umgeben ist, verstärkt diesen Eindruck nur noch mehr.
Es ist schwachsinnig – und gefährlich ist es vor allem! –, hatte ich mir schon manche Male überlegt, es jedoch nie geäussert, einen einzelnen Menschen, auf sich selbst gestellt, solch einer geräumigen Leere auszuliefern.
Ich stand jetzt auf. Im Dunkeln gleitete ich auf dem Teppichboden hinüber zur Glastür, die hinaus in den Gang führte, denn ich wollte wissen, ob sich ausser mir noch jemand im Gebäude befände.
Ich öffnete die Tür und ich streckte meinen Kopf in den Gang. Ich sah nach rechts, dann sah ich nach links. Ich wagte mich einen Schritt aus meinem Zimmer.
Aber weit und breit konnte ich keinen Menschen sehen.
Auch kein Tier, keine Maus etwa oder eine Ratte. Keine Kakerlake, keine Taube, keine Katze! Was auch immer hätte durch diese Räumlichkeiten schleichen, dabei die Gänge vollscheissen und mich aus der Bahn werfen können – es schien nicht da zu sein.
Meine Augen fühlten sich entspannt an. Besser als jetzt würde ich vermutlich, ohne Licht, nicht mehr sehen können, obschon ich noch immer ziemlich Mühe damit hatte.
Ich überblickte von meinem Standpunkt aus den ‹Erholungsbereich› und das Grossraumbüro, ja, ich sah sogar bis hinüber zum ‹Aquarium›, wie wir den Raum nannten, in dem ich früher, zusammen mit meinen getreuen Kolleginnen und Kollegen, meine ersten sechs Jahre hier …
… mmh … ich glaube, er sagte « … im Kundendienst … » – ja, genau, das sagte er …
… im Kundendienst verbracht hatte. Das war noch bis zu einem halben Jahr davor gewesen, vor meiner Beförderung also, bevor man mir ein eigenes Zimmer zugewiesen hatte. Ich glaube, wir nannten den Raum so, weil er, verglichen mit den Büros und den Sitzungszimmern, obschon deren Wände nicht minder lichtdurchlässig waren, zum Amüsement Aller wie ein Aquarium recht ausgestellt dastand.
Ich drehte mich um. Gerade wollte ich zurück in mein Büro kehren, als plötzlich hinter mir laut ein Telefon klingelte.
«Scheisse!», ruf ich, «Scheisse!…», und meine Hände zittern! Vor Schreck fuhr ich zusammen, jetzt spring ich rein in den dunklen Raum, knall die Tür zu und dreh den Schlüssel.
«Fuck!… Oh Gott!…»
Der Puls schiesst mir durch die Adern und ich seh mich um in dieser abgeschlossnen, schummrigen Kammer… Kein knochiger Mann mit einem Schlachtmesser! Kein Maskierter mit einer Kettensäge! Der Teufel soll sie doch alle holen!… ich war zum Glück allein in meinem Zimmer.
Kurz aber, nachdem das Telefon (ich verortete es, an der Richtung seines Klingeltons zu schliessen, im ‹Aquarium›, obwohl ich es dann eigentlich gar nicht hätte hören können) wieder verstummt war, begann, als wär dieser Anruf nichts weiter als eine meiner seltenen Vorahnungen gewesen, ein zweites Telefon zu klingeln. Diesmal war es mein eigenes, das unmittelbar vor mir auf dem Schreibtisch stand:
Es klingelte. «Das ist bestimmt nur ein Zufall», dachte ich mir. Es klingelte. «Das kann nur Zufall sein», sagte ich mir. Es klingelte erneut. Ich sagte ruhig, erst einmal tief durchatmend, und laut zu mir selbst:
«Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass so was geschieht.»
Dann trat ich ganz an den Schreibtisch heran und ich… nein, ich nahm den Hörer nicht ab, nicht sogleich, jedenfalls, nicht sofort, denn ich zögerte… Das Telefon klingelte – und ich zögerte… Das Telefon klingelte – und ich streckte den Arm aus in Richtung des Hörers. Das Telefon klingelte – und ich zögerte… Das Telefon klingelte – und ich berührte den Hörer mit meinen Fingern, mit der Hand. Das Telefon klingelte – und ich zögerte… Das Telefon klingelte noch immer – und ich zögerte… Das Telefon klingelte – und ich zitterte und zögerte! Das Telefon klingelte noch immer!… und ich zitterte und zögerte!… und ich schnaufte! und ich zitterte! und ich zögerte! und ich !! –
Ich höre, wie das Telefon klingelt,
auch höre ich, wie ich selbst atme,
und ich spüre,
wie mein Herz pocht und meine Hand zittert, wenn ich jetzt dann gleich…
«Nimm endlich ab! Nimm ab!», sage ich mir.
Es klingelt.
«Worauf wartest du eigentlich?»
Es klingelt.
…
…
«?!»
Ich weiss nicht mehr, weshalb ich den Anruf nicht entgegengenommen hatte: aus Angst, ja, aber da war, glaube ich, noch etwas. Denn daraufhin begann ich nachdenklich zu werden, und ich entwickelte …
An dieser Stelle brach er seine Ausführungen ab, und der Fettsack erzählte nicht mehr weiter.
Er atmete ein paar Mal ruhig durch, dann machte er eine Pause, hielt den Atem an. Er räusperte sich. Ich sah ihm dabei von oben herab geduldig zu, während ich darauf wartete, ob noch was kommen würde.
Jetzt begann er, nervös mit seinem linken Bein zu wippen.
Ich war stolz …
… sagte er so, wie er aufgehört hatte, ohne Ankündigung …
… ich war stolz, ein wenig zu stolz vielleicht, erst recht, wenn ich von Freunden, die sich einen Namen in der hiesigen Kunstszene gemacht hatten, hörte, nachdem sie mein Gemälde genau betrachtet hatten, dass es einen gewissen ‹Anspruch›, wie sie es zu bezeichnen pflegten, ‹geltend macht› – weniger aufgrund dessen, was es zeigt, als vielmehr, wie es darstellt, was es eben darzustellen behauptet. Ich verstand zwar nie wirklich, was sie damit meinten, vermutete allerdings, dass sie es selber auch nicht genau wussten. –
Wo war ich stehen geblieben? Ich setzte mich also wieder an meinen Schreibtisch. …
Ohne jegliche Hilfe hatte ich es gemalt, müssen Sie wissen, ohne jegliche Hilfe, ganz alleine und ohne Vorbildung.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung von der Materie besessen, wusste weder welche Farben ich benutzen sollte noch welche Pinsel – geschweige denn, wie ich diese zu führen hatte! Ha! Ja, da war kein einziger Funke Bildung in mir, was die Malerei betrifft im Allgemeinen, noch, was deren Technik oder Kunstgeschichte anbelangt im Besondren.
Im Keller meiner Studentenwohnung hatte ich sogar den Rahmen selbst gebastelt, hatte die Latten gesägt, sie geschliffen. Anschliessend hatte ich die fertigen Latten, weil das Licht im Schlafzimmer besser war, zum Bemalen und Lackieren durch das Treppenhaus hoch in die Wohnung getragen. Ich musste Möbel verschieben und das Fenster öffnen, damit sie in meinem kleinen Kämmerchen Platz hatten.
Am Bild selbst hatte ich draussen gearbeitet an der frischen Luft und im natürlichen Sonnenlicht. Als es fertig war, bewahrte ich es all die Jahre in Garagen und Kellern auf unter grauen Tüchern und Decken, die vor Feuchtigkeit und Staub schützen sollten. Noch nie hatte ich in einer Wohnung den Platz gefunden, es aufzuhängen, und jetzt, da ich ihn hätte an diesen Glaswänden, wage ich es nicht, ja, finde weder die Zeit dazu, noch wüsste ich, wie das schwere Ding dort halten sollte, womit ich es dort befestigen sollte! –
Ich griff nun nach dem Schalter der Schreibtischlampe, und ich drückte ihn einmal aus, dann wieder ein: Die Lampe aber schien wirklich ihren Geist aufgegeben zu haben.
Es war jetzt, als ich nichts mehr zu verlieren glaubte, dass ich den Sitz zurückschob, aufstand, die Tastatur in meine beiden Hände nahm, weit ausholte, mich erhob vor dieser elenden Scheisslampe, ansetzte, um gleich wild auf sie einzuprügeln, und…
Siehe da!
Sie leuchtete wieder, wie durch ein Wunder!
Und ihr Licht, das von der weissen Tischplatte reflektiert wurde, war jetzt plötzlich so intensiv und stark und grell, dass die Form der Platte sich in meine Augen brannte und der ganze Raum vor mir in ein helles, blaues Bad getaucht wurde.
Von nun an betrachtete ich alles, kurzzeitig wenigstens, durch einen dünnen, orangefarbenen Film.
Auf off’ner See – auf dem endlosen, weiten Meer, nicht fern der goldenen Küsten – schwimmt ein prachtvolles, rotes Segelboot im ruhigen, kristallklaren, smaragdgrünen Wasser. Seine weissen Segel sind geöffnet, doch sie fangen keinen Wind.
Unten links glitzert das Licht der Sonne hoffnungsvoll in orangen und rötlichen Tönen. Oben rechts aber nähern sich riesige grau-braun- bis tiefschwarze Gewitterwolken, die so geladen aussehn vor elektrischer Spannung, als könnten sie jeden Augenblick in Flammen aufgehn, den Himmel zerreissen und mit ihm die ganze Welt in Elend, Hunger, Tod und Ungleichheit stürzen.
Auf dem Boot steht der Name des Boots:
‹IKARUS›,
geschrieben in Kapitälchen.
Deutlich, und leuchtend gelb, treten die grossen Buchstaben auf dem glänzenden roten Holz des Schiffs hervor. Allein dafür hatte ich mir den besten Pinsel, den ich finden konnte, gekauft, den besten und teuersten, den ich mir leisten konnte, um am Ende, als das Bild praktisch fertig war – als Krönung sozusagen –, den Namen des Schiffs sorgfältig aufzutragen.
Wie war das, bitte? … Was?! … Nein, du hast schon richtig gehört: «‹NAUTILUS›, geschrieben in Kapitälchen», hatte ich gesagt.
… Bitte was? … Ja! Das sagte ich doch soeben. ‹NAUTILUS› ist Jules Verne. Blöd bin ich nicht.
… Mhm … … Mhm … … … Also hört jetzt alle auf damit, ihr bringt mich ja noch bei meiner eigenen Geschichte durcheinander. … Ja, da lacht ihr!
Letztes Wort, also – und ihr werdet sehn, das macht auch viel mehr Sinn als dieser Unfug –:
‹IKARUS›, verdammt noch mal, ‹IKARUS›, geschrieben in Kapitälchen.
In meiner Jackentasche – ich spürte es kaum, denn meine Jacke hing hinter mir über der Rückenlehne des Sessels, auf den ich mich wieder niedergelassen hatte, und die Jacke berührte nur leicht meine Schultern – vibrierte es. Erst einmal, dann noch einmal.
«Ja bitte?»
Als wär sie die ganze Zeit bloss ein Phantom gewesen, war meine Angst nun plötzlich verflogen.
«Auf dem Nachhauseweg?», sagte die Stimme am andern Ende. «Du weisst doch: während dem Fahren solltest du nicht telefonieren.»
Die Stimme war brav und attraktiv zugleich – attraktiver jedenfalls, als man es ihr zutrauen würde, wenn man ihre Urheberin kannte, und das wusste sie. Sie telefonierte deshalb gern.
«Du hast mich angerufen, nicht umgekehrt», sagte ich.
«Wann bist du zu Hause?»
«Ich bin noch im Büro.»
«Ah ja? Dort hatte ich dich soeben versucht, zu erreichen. Bist du also schon bald im Auto?»
«So, du warst das! Nein, bin ich nicht. Mit ‹Büro› meinte ich wirklich Büro. … Ha! Und ich dachte schon…»
Ich sprach nicht mehr weiter.
«Was dachtest du?»
«Nichts. Ich dachte nichts.»
«Und was machst du um diese Zeit noch im Büro? Du klingst merkwürdig.»
«Ja was wohl! Ich arbeite. Wenn man es so bezeichnen will.»
Tatsächlich glaubte auch ich in meiner Stimme etwas Seltsames zu registrieren, etwas für mich Untypisches. Da kratzte was an den Schallwellen, bevor ich sie in den Raum entliess, oder, wie sie es auf einfachere Weise formulierte:
«Du klingst weinerlich. Hast du geweint?»
«Nein.»
«Bist du nervös?»
«Nein.»
«Ist was nicht in Ordnung? Ist was geschehn?»
Ob es wirklich weinerlich war, wie ich klang, kann ich nicht beurteilen. Auch mag ich mich jetzt an dieses Detail gar nicht genau erinnern. Jedenfalls musste ich mich erst einmal räuspern, um meine Kehle vom Schleim, der festsass, zu befreien, bevor ich weiterreden konnte.
«Was ist los?»
«Nichts ist los, alles in Ordnung, Schatz», sagte ich abklemmend.
«Na, woran arbeitest du denn zu dieser Stunde?»
«Es wird wahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern, bis ich…»
«Was soll das heissen?»
«Scheisse, ich weiss es doch nicht, okay?!»
«Wir sind schon beide fast am Verhungern!»
«Ja, ich weiss ja, ich weiss – tut mir ja leid, tut mir ja leid. Ich kann nichts dafür, glaub mir doch! Komm mir jetzt einfach nicht damit.»
«Womit soll ich nicht kommen?»
«Ja eben damit, eben.»
«Aha, ich verstehe.»
Wir schwiegen. Dann sagte ich:
«Ich kann’s nun mal auch nicht ändern.»
«Was kannst du nicht ändern?»
«Dass ich heut Abend eben noch arbeiten muss.»
«Und was soll das nun genau bedeuten, bitte schön? Wenn du dich doch wenigstens nur ein Mal verständlich ausdrücken könntest, wär mir schon sehr viel geholfen.»
Ich sagte:
«Ich sitz im Büro fest.»
Und sie:
«Was soll das heissen, du sitzt im Büro fest?»
«Nichts soll das heissen, nichts. Es ist wegen des Konzepts. … Ich schaff’s nicht. Ich krieg’s nicht hin, verstehst du? … Ich kriege – es – einfach – nicht – HIN!»
«Ich verstehe. Glaube ich. Wegen des ‹Konzepts›, wegen dieses ominösen ‹Konzepts›, von dem du schon seit Wochen sprichst, ohne mir jemals wirklich erklärt zu haben, worum es dabei geht. Und jetzt? So, auf diese Weise, würd nicht einmal ich es hinbekommen, mein Freundchen. Und du weisst, was das bedeutet. – Nun, was ist also?»
«Nichts ist.»
«Wie lange brauchst du also noch für dein ‹Konzept›? Wann kommst du?»
«Ich weiss es nicht.»
«Was für eine Art Konzept ist es denn überhaupt?»
«Das darf ich ja eben nicht saageen.»
«Wenn du meinst.»
«Ja.»
«Aber kannst du’s nicht einfach für heute sein lassen und morgen weitermachen? Lucille hat ihre Hausaufgaben noch nicht erledigt, sie könnte gut deine Hilfe gebrauchen. Ich hab grad einen strengen Tag hinter mir.» «Ach.» «Ja. Vormittags Calls, Calls, Sitzungen, Calls… und am Nachmittag dann musste ich die erste Runde der diesjährigen Mitarbeitergespräche führen mit drei Mitarbeitern, wovon…»
«Die machst du doch gern.»
«Lass mich doch ausreden, Mensch! – …wovon ich zwei nach dem ersten Jahr schon wieder feuern musste.»
Sie schwieg.
«Ach so, he, na ja. Lieber du als ich», sagte ich.
«Ja», fuhr sie fort, «jetzt bin ich auf jeden Fall hungrig und müde.» «Mhm.» «Ich hatte gehofft, ich könnte heut Abend endlich wieder einmal ein bisschen ausspannen, hm?» «Ja.» «Faul auf der Couch liegen und so, mit einem dicken Buch und so und einem doppelten Old Fashioned mit viel Zucker und wenig Angostura.» «Igitt…» «Und danach, hatte ich gedacht, könnt ich ein heisses Bad nehmen, während du dafür sorgst, dass Lucille brav in ihrem Zimmer verschwindet, und wir zwei könnten dann.» «Hm?» «Na ja. Mmm… du weisst schon. … Könntest du mich.» «??» «Ich bin schon Mitte dreissig, und Lucille wird dieses Jahr schon… sechzehn, mein Gott! Sechzehn!»
«Ich versteh jetzt wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Du musst wissen, ich bin mit meinen Gedanken grad an einem ganz andern Ort.»
«Mich befriedigen, du Holzkopf!»
«Ah.»
«Mir den Rücken massieren.»
«Mhm.»
«Und die Arme, den Nacken und die Beine.»
«Klar.»
«Den Po?»
«Hm…»
«Meine Muschi streicheln!»
«Ha!»
«Und mich umdrehn und meine Nippel streicheln!»
«Ja.»
«Meine Nippel lecken!»
«Ja.»
«Meine Nippel beissen!»
«Ja, ich versteh schon, wor…»
«Die Fotze reiben!»
«Ja, Schatz, das geh…»
«Bis ich komm und mich im Anschluss dann, wenn ich so ganz nackt und entspannt dalieg mit meiner warmen, feuchten, dampfenden Haut und den ganzen Stress so richtig von der Seele abgespült hab – dann darfst du mich, im Anschluss dann, als Dank für deine Dienste sozusagen, noch geschwind schwängern.»
«Ach herrje!» Ich hustete, denn ich hatte mich verschluckt, und so legte ich das Handy kurz auf den Tisch.
Während ich meine tränenden Augen rieb, sprach ich nahe ins Mikrofon:
«Da muss i…» Ich hustete noch zwei-, dreimal.
«Geht’s?»
«Ja, ’s geht schon wieder, danke.» Ich nahm das Handy ans Ohr. «Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich werd, wohl oder übel, im Büro übernachten müssen. Das Konzept sollte nämlich morgen fertig sein – ach! was sag ich da bloss? Es muss morgen fertig sein. Und ich hab noch nicht einmal richtig mit dem Entwurf begonnen.»
Am Handy war es still.
«Bist du noch dran?», sagte ich jetzt.
«Ja», sagte sie.
«Esst bloss ohne mich.»
«Ja. Auch gut. Sag das doch gleich, dann hätt ich uns schon längst was vom Kurier bestellen können.»
«Koch doch was!»
«Nein. Übrigens: Ich war heute auch noch bei der Ärztin wegen Lucille. Sie hat ihr wieder das alte Medikament verschrieben. Das sollte sie ja vertragen. Konnte gleich eine Packung mitnehmen.»
«Gut, gut.»
«Ja. War nicht mehr auszuhalten mit ihr.»
«Nein», lachte ich jetzt, «war wirklich nicht mehr zum Aushalten!»
Eine Pause durchbohrte erneut unser Gespräch. Dann sagte sie:
«Oh, warte kurz, jemand ruft an! Nicht auflegen, ja?»
Die mir wohlbekannte, charakteristische Melodie erklang, und während ich auf die Rückkehr meiner Frau wartete, dachte ich weiter über mein Bild nach:
Etwas störte mich jetzt daran, eine Sache schien mir in diesem Moment plötzlich seltsam. Auf dem Boot hätte es doch genügend Platz für Menschen gehabt, dachte ich, für einen Kapitän und einen Matrosen wenigstens: für einen Fischer und seinen Gehilfen. – Ja, so ein Segelschiff ganz ohne Seeleute? Das ging doch gar nicht, das macht doch überhaupt keinen Sinn!
Ich fragte mich, weshalb ich vergessen hatte, Menschen zu malen.
«Bist du noch da?»
«Ja.»
«Du schläfst also heut Nacht nicht zu Hause?»
«Nein.»
«Na schön. Ich find’s aber – wenn ich dir das jetzt so direkt sagen darf, wo wir doch grad dabei sind – nicht gut, wie sich deine Verpflichtungen in dieser Firma entwickeln. Kurzfristig ist das ja okay; langfristig aber darf es so nicht weitergehen. Ich schlage deshalb vor, dass wir uns bei Gelegenheit mal in Ruhe darüber unterhalten.»
«Jajajajaja. Ein andermal, Schatz. Bitte, ein andermal.»
«Ja, sag ich doch: bei Gelegenheit.»
«Gib Lucille von mir einen Kuss.»
«Wenn ich dran denk.»
«Danke.»
«Also dann. Ich lass dich jetzt.»
«Gut.»
«Gute Nacht, also, und … »
«Gute Nacht», sagte ich.
« … gutes Arbeiten noch. Bis morgen Abend, also», sagte die Stimme auf der andern Seite, die plötzlich eine ihrer vertrauten Qualitäten verloren hatte.
Ich liess meinen Kopf nach hinten an die Kopfstütze fallen. Mit halb geöffneten Lidern warf ich nochmals, an beiden Seiten des Bildschirms vorbei und über den Bildschirm hinweg, einen kurzen Blick auf das riesige Gemäld…
Ich hör ein Kreischen.