Der Fensterspalt

III

Hi…», sagte ich, ohne zu realisieren, dass sie mich ja gar nicht hören konnte. Ich fühlte mich noch etwas abwesend.

…ich find’s echt schade, dass wir heut nicht zusammen essen können. Ja, ganz ehrlich! Du würdest dich bestimmt freun! Es gibt nämlich… Sag mal, spinnst du? – Sei still! Sssch!»

Einen Moment lang war es ruhig. Dann hörte ich merkwürdige Geräusche: gedämpfte, mit einem Rascheln oder Kratzen überlagerte, brummende Schwingungen drangen aus dem Anrufbeantworter.

Schnell merkte ich, dass meine Frau wohl den Hörer an ihre Brust gedrückt haben musste und mit jemandem redete. Zwar konnte ich nicht verstehen, was sie sagte, doch ging ich davon aus, dass es Lucille war, mit der sie sich unterhielt. Mit wem sonst sollte sie sich um diese Uhrzeit auch unterhalten, sagte ich mir.

«Jaaa, also», hörte ich jetzt. «Entschuldige bitte.»

Sie war wieder zurück am Apparat.

Ich fragte mich… «Ich sag’s dir! Früher oder später wird auch sie noch auf den Geschmack kommen, nicht wahr?… das haben wir schon mindestens einmal mit ihr erlebt. Heute aber gibt sie sich mit trocknem Reis zufrieden. – Wen wundert’s? Wir wissen ja, von wem sie das haben muss. – Ich, hingegen, bin jetzt glückliche Besitzerin einer Platte Sushi, ganz für mich allein. …

Ohhh! Du so…UCH!… … UCH!…UCHHH!!… … … »

Sie hustete. Ich frage mich, ob da, nebst meiner Frau natürlich, wirklich jemand im Raum anwesend war. Ich weiss, ich weiss!… sagen Sie jetzt besser nichts. –

Er gestikulierte wild. Er warf, als wollte er mir in einer bestimmten Sache seine Unschuld beteuern, seine Hände über den Kopf und zeigte mir die Handflächen. Dann legte er die Hände flach auf den runden Holztisch, der vor ihm stand.

Mir ist bewusst, wenn ich das erzähle, dann glauben Sie, ich sei paranoid oder dergleichen. Ich versichere Ihnen aber: das bin ich nicht. Es ist nur eben so, dass ich mich ehrlich gesprochen nicht daran erinnern mag, ob ich ausser meiner Frau mit der brummenden Stimme während der vorherigen Unterbrechung sonst noch jemanden habe reden hören.

Na ja, wie dem auch sei! Sie fuhr fort:

«Du solltest sehn, wie köstlich das ausschaut! Mmmh…UCH!!…»

Dann hustete sie und räusperte sich noch einige Male.

«Entschuldigung. Hm…mmm! … Mir ist was in die Kehle geraten. Hatte vorhin wohl den Mund zu voll genommen. Mein Rachen fühlt sich auch ein wenig gereizt an.

Jedenfalls… Ach! Nein, was soll’s? Vergiss es. Tut mir leid, ich will dich ja nicht unnötig quälen. Der Kurier war übrigens sehr flott! Ein ganz nettes Bürschchen, der!… ich sag’s dir.

Tjaa… Student, würd ich jetzt mal so schätzen… so vom Alter her… … vom Aussehen her und so. Wundert mich ehrlich gesagt nicht besonders. Die Studis müssen ja auch irgendwie ihren Unterhalt verdienen.

Uuund… sehr freundlich war er vor allem, sehr… … na, wie war das schon wieder? Grad vorhin hatt ich’s noch. – – Zuvorkommend! … Nein, das ist nicht ganz das richtige Wort dafür… er war ein – ja, das trifft’s wohl eher –, er war ein äusserst offener, könnte man sagen, ein offener und aufgeschlossner Mensch, halt!

Ja. So würd ich ihn auf jeden Fall beschreiben… einschätzen!, mein’ ich. – Ich wollte sagen: ‹So wirkte er.› – Wie er in Tat und Wahrheit ist, das kann ich ja nicht wissen. Kenn ihn ja privat nicht. …

Verdammt, hör auf damit! – Warte bitte kurz.»

Wieder verstand ich kein Wort, nur das Brummen, begleitet von diesem Rascheln und Kratzen, war erneut zu hören.

«Wo war ich?… … Ach ja, genau. Mann! Weisst du noch? Wir waren auch mal so jung wie der! Jaaa… das waren noch Zeiten… … als du damals, wie der Studi heut, noch ein paar Kilo Muckis mehr an den Armen… ja, dafür ein paar Kilo weniger von was anderm an den Hüften hattest. – Haha! Nimm’s mir nicht übel! Du weisst schon, wie ich das mein’. Ich selbst bin ja über die Jahre auch ein bisschen ausser Form geraten.

Ähm… aber das war’s eigentlich nicht, was ich erzählen wollte, nein, sondern… … sondern… ja. Bezahlt hab ich dann – weisst du, weshalb die Karte nicht funktioniert? Also, mir war die zumindest heut nicht besonders dienlich, ja. Ich weiss nicht… Ganz schön doof, ne? Musste daher bar bezahlen. Zum Glück aber hab ich davon immer genügend in der einen oder andern Währung zu Hause.

Mit Schweizer Franken kam ich zwar diesmal nicht sehr weit. Dem Kurier schien das allerdings nicht viel auszumachen, im Gegenteil – der war da ziemlich offen und entgegenkommend. Ja. Hab ihm deshalb von mir aus obendrauf noch ein… Wirst du mich wohl sofort in Ruh…hm… tm…m…m…m…m… lm…m…?!»

Was war denn bloss los? Lucille schien aus irgendeinem Grund gerade schwierig zu tun.

«Mensch! Wo war ich denn j… Trinkgeld! Genau, beim Trinkgeld war ich. Ja!… Ich hab ihm also ordentlich ein… ihm ein ordentliches Trinkgeld gegeben und musste zuerst fast drauf bestehn, dass er’s annimmt, dieser bescheidene, schüchterne Junge. Jawoll. Lucille war dann auch noch angehalten, aus Höflichkeit und Anstand was Kleines beizutragen.

Du hast doch hoffentlich nichts dagegen? Ich dachte bloss: auch die müssen von was leben können, diese armen Studenten… von was ihr Taschengeld ein wenig aufbessern, halt, hab ich mir so gedacht. Und dass der uns nun auf die Schnelle mit lauter Leckereien beliefert hat, davon profitiert ja schlussendlich auch Lucille – grundsätzlich, mein’ ich. Wenn sie’s dann nämlich lieber bei trocknem Reis belässt, ist das ihre Sache. –

Ja, ja. Was frag ich auch? Das hätt dir bestimmt nix ausgemacht, wenn du dabei gewesen wärst. Ich kenn dich ja!

Sooo… und wie kommst du so voran? – Ach! Das musst du mir natürlich nicht beantworten, ist mir bloss aus Gewohnheit rausgerutscht. Kannst mir ja morgen Abend dann erzählen, wie alles gelaufen…

Verdammt! Was ist eigentlich mit dir los heute? … Nein! – Fertig jetzt! Ich sagte, nein! Du gehst sofort auf dein Zimmer und machst für morgen deine Hausaufgaben. Hast du mich verstanden? – –

Da bin ich wieder. Lucille nervt grad gewaltig … seit vorhin aber erst, seit der Kurier uns verlassen hat. Ansonsten geht’s ihr gut. Besser wieder, kann ich nur sagen, besser als am Morgen dank der Medikamente. Leider merkt man ihr ihre Höhenflüge nur manchmal allzu gut an. Doch wem sag ich das?

Kennst du den eigentlich?… also, den Kurier, mein’ ich… ähm… … Lucille hat nämlich gefragt… ja… ob der zv… der zufällig schon mal bei uns war. Er muss anscheinend einen guten Eindruck auf sie hinterlassen haben, wenn du weisst, was ich mein’? Hm?… oh… warte kurz!… … Hm?… HMM-TSCHUUU!!!»

Sie putzte sich die Nase.

«Entschuldige. Hm…mmm!… Du würdest den bestimmt auf der Strasse erkennen, wenn ich ihn dir beschreib. Er trug eine Brille mit so grossen, abgerundeten Gläsern und einem schmalen Rahmen, war recht hochgewachsen – schlank, noch immer aber muskulös – und er hatte einen langen Schwanz. Den fand ich bei diesem Typ besonders auff… – Aaah!…Hahaha……!»

Unversehens platzte ein ‹unnatürlich lautes› Lachen aus meiner Frau heraus. Anders kann ich es bis heut noch nicht beschreiben.

«Ach, herrje! Das ist jetzt aber… Hahaha…! Tut mir echt leid!»

Sie schien sich vor Lachen kaum mehr einkriegen zu wollen.

«Das ist mir jetzt aber grad ein bisschen peinlich, Mann! … Hehe, wonach das wohl geklungen haben muss? Du weisst schon. – Natürlich meinte ich nicht… Kannst dir ja denken, was ich meinte.

Was ich nämlich sagen wollte, war… Ach! Ich wollt sagen, dass der Student lange, natürlich – nein, nicht einfach lange sondern für so einen Typ auffällig lange, natürlich blonde Haare hatte, die er zu einem Schwanz zusammengebunden trug. So. Hehe. Spätestens jetzt sollt’s dir klar sein. – »

Wenn ich nur wüsste, worauf ich meinen Eindruck damals stützte. War es Einbildung gewesen? Obgleich wir uns schon über zehn Jahre lang kannten: dieses Verhalten wirkte auf mich jedenfalls auf eine gewisse Art befremdend.

«Ich weiss doch nicht, was der für einen Schwanz hat, Mensch! Du verstehst schon: ob kurz oder lang, ob dick oder dünn. Dummkopf, du!… Mir schon klar, was du jetzt denkst. Den hab ich ja gar nicht gesehn, gar nicht sehen können! Ha!… Das wär’s noch, ha!, wenn ich den gesehn hätt! – – Ha!!»

Ich glaube, selbst wenn ich Kritiker wär oder Lehrer an einer Schauspielschule, hätte ich noch Mühe gehabt, ihre Darbietung beurteilen zu können und einzuschätzen, was sie mit ihr genau zum Ausdruck bringen wollte.

«Verzeih, bitte», sagte sie, «ich wollt’ dich vorhin nicht schockier’n.»

Bekam sie da langsam eine schwere Zunge? Hatte sie etwa heimlich und allein getrunken?

«Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen, Schatz. Arbeite du jetzt einfach schön brav an deinem ‹Konzept› weiter, und wir sehn uns ja dann morgen wieder, ja?»

Nun musste ich mir einen Moment noch ihr Gekicher anhören, bis sie plötzlich sagte:

«Ich muss jetz’ Schluss machen.»

Ich wunderte mich: hatte sie Lucille nicht eben auf ihr Zimmer geschickt? Da war nämlich wieder dieses Dumpfe und Kratzende auf dem Band.

«Aaahaha! Mir tränen noch immer die Augen!… Ich lass dich jetz’ aber, mein Schatz. Mir ist heut sowieso nicht mehr zu helfen. – Ach ja, und vergiss du nicht, auch noch was Kleines zu essen.»

Mein Kopf surrte stark und, wollte ich der Aufnahme folgen, so musste ich mich mittlerweile ziemlich anstrengen. Doch glaubte ich, mich vorhin beim Brummen ihrer Stimme wirklich nicht getäuscht zu haben.

«Also», hörte ich abschliessend, «gutes Arbeiten nochmals! Uuund… nimm’s nicht…t zu streng, ja? Wir sehn uns morgen! Ich denk an dich!»

Das Erste, was mir eigentlich – ausser leichten Schmerzen – dazumal durch den Kopf gegangen war, war der folgende Gedanke gewesen: ‹Mensch, sind die heutzutage schnell, diese Kuriere! Die… diese elenden Studenten, die… mit ihren Mopeds!›

Dann aber hielt ich einen Moment inne und ich besann mich auf das soeben Gehörte.

Ich spulte das Band zurück:

«…»

«…nem Reis zufrieden. – Wen wundert’s? Wir wissen ja, von wem sie das haben muss. – Ich, hingegen, bin jetzt glückliche Besitzerin einer Platte Sushi, ganz…»

Nein, das war’s nicht, was ich suchte.

«…»

«…s in die Kehle geraten. Hatte vorhin wohl den Mund zu voll genommen. Mein Rachen fühlt sich auch ein wenig gereizt an. Jede……………a, das trifft’s wohl eher –, er war ein äusserst offener, könnte man sagen, ein offener und aufgeschlossner Me…»

Das war es auch nicht gewesen. Ich spulte weiter vor.

«…»

«…der Studi heut, noch ein paar Kilo Muckis m…»

«…»

Jetzt kam ich der Sache schon näher, das spürte ich.

«…eizer Franken kam ich zwar diesmal nicht sehr weit. Dem Kurier schien das allerdings nicht viel auszumachen, im Gegenteil – der war da ziemlich offen und entgegenkommend. Ja. Hab ihm deshalb von mir aus obendrauf noch ein… Wirst du mich wo……… Ja!… Ich hab ihm also ordentlich ein… ihm ein ordentliches Trinkgeld gegeben und musste zuerst fast drauf bestehn, dass er’s annimmt, dieser bescheidene, schüchterne Junge. Jawoll. Lucille war dann auch noch angehalten, aus Höflichkeit und Anstand was Kleines beizutragen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?»

STOPP.

‹Einmal tief Luft holen›, dachte ich, und das tat ich dann auch. ‹Vielleicht – ja, vielleicht hab ich in meiner Kindheit und Jugend bloss zu viele Seifenopern gesehn, zu viele schlechte Filme geschaut. Wer weiss?›

Dann aber streckte ich meine linke Hand aus, denn entschlossen griff ich jetzt nach dem Hörer.


ENDE
DER LESEPROBE


mf.

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