Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im März 2021.
Sein Leben wäre in ganz anderen Bahnen verlaufen – so wie das eines gewöhnlichen Jugendlichen –, wäre er nicht eines Morgens vor den Spiegel getreten und hätte bemerkt, dass über Nacht kleine, grüne Knöllchen begonnen hatten, aus den Poren seiner Gesichtshaut zu spriessen.
Da war zunächst nur eine Knolle zu sehen gewesen. Sie spross unterhalb des linken Auges auf seiner Wange und schien nicht grösser zu sein als der Kopf einer Stecknadel.
Schlaftrunken wie er war, hatte er sie im ersten Moment gar nicht bemerkt; und dann, als er sie auf der Wange seines Spiegelbilds erblickte, hatte er sie für einen grünen Fussel gehalten.
Er wollte den Fussel mit der Hand wegwischen, doch es misslang ihm. Als er den Fremdkörper in seinem Gesicht nun nochmals mit den Fingern berührte, sachte diesmal, da lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Das Ding wollte sich aus der Pore nicht lösen und schien sich wie eine Zecke in der Gesichtshaut festzuklammern.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Der Fremdkörper musste auf dem Kopfkissen gelegen und sich über Nacht in die Haut gebohrt haben. Auf andre Weise konnte er sich die Erscheinung nicht erklären. Doch wäre es tatsächlich wahr gewesen, was er vermutete, so hätte es ihm gelingen müssen, dieses kleine Knöllchen mit der Pinzette auszurupfen.
Der Junge ging mit dem Kopf näher an den Spiegel heran. Erst jetzt vermochte er die Struktur des Fremdkörpers zu erkennen.
Der Fremdkörper war klein und grün und fest, und er ragte etwas weniger als einen halben Zentimeter aus der Oberfläche der Haut heraus. Er besass eine blättrige Struktur, etwa so wie die geschlossene Blüte einer winzigen und noch unreifen Tulpe, oder vielleicht eher wie der knospige Blütenstand einer Artischocke. So nannte er den Fremdkörper auch fortan.
Da ist im Moment nichts zu machen, dachte der Junge. Schmerzen hatte er keine. Er klebte sich ein Pflaster auf die Wange und verliess, wie er es sich gewohnt war, das Haus und ging zur Schule.
Am darauffolgenden Morgen bemerkte er, dass das knospenartige Gewächs in seinem Gesicht über Nacht gewachsen war, und ein zweites Knöllchen hatte sich bemerkbar gemacht, diesmal jedoch auf der Stirn. Am dritten Tag waren es bereits vier Stück. Der Junge wusste schon nicht mehr, wie er all die Pflaster bei seinen Klassenkameraden rechtfertigen sollte.
Wenn es so weitergeht und die Knospen immer grösser werden, dann werden letzten Endes Pflaster nicht mehr ausreichen, um die Dinger vor den Blicken andrer zu verbergen, dachte der Junge.
Nun war beim grössten der Fremdkörper, welcher mittlerweile auf die Grösse einer Murmel angewachsen war, die blätter- und knospenartige Struktur deutlich zu erkennen, und zwar schon aus zwei Meter Entfernung.
«Was ist mit deinem Gesicht passiert?», wollten sie in der Schule wissen. «Jeden Tag ein neues Pflaster!»
Der Junge schämte sich. Ohnehin befand sich sein Körper gerade in einer Phase grosser Veränderung. Er starrte hinunter in sein Heft, das auf dem Tisch lag, und tat so, als habe er die Frage nicht gehört.
Eine der jungen Frauen stupste ihn an.
«Na, sag schon.»
Er blickte von seinem Heft nicht auf.
«Ich habe Pickel gekriegt», sagte er, «und die haben sich stark entzündet.»
Und in der Tat stimmte das zur Hälfte auch. Denn mittlerweile hatten sich um manche der Knospen herum rote Ränder gebildet, die wehtaten, selbst dann, wenn er sie nicht berührte und auch nicht an den Fremdkörpern herumdrückte.
«Komm, zeig mal her. Ich kenn das! Vielleicht kann man die schon ausdrücken.»
Aber der Junge wollte nicht und wurde wütend.
Die Mutter des Jungen schickte ihren Sohn zum Hautarzt.
«Tut das weh?»
«Ja.»
Vor dem Betreten des Wartezimmers hatte er sich einen Schal um sein entstelltes Gesicht gewickelt, sodass nur noch die Augen herausblicken konnten. Jetzt sass er entblösst auf der Untersuchungsliege, nachdem der Arzt die Anamnese aufgenommen hatte.
«Und das hier?»
«Nein.»
Der Arzt hatte sich ein Pärchen Latexhandschuhe über seine langen Finger gezogen. Jetzt betastete er die Knospen, eine nach der andern, und die jeweils darum herumliegende Haut seines Patienten.
«Und wenn ich so mache?»
«Ja, das spüre ich.»
«Spürst du wie?»
«Dumpf … keine Ahnung … kein Schmerz, aber … eher Druck.»
Er nahm die eine Knospe zwischen die Finger und bewegte sie hin und her, drehte an ihr herum und versuchte, sie aus der Haut zu lösen.
«Hast du Gefühl in den Knöllchen drin?»
«Wie meinen Sie das?»
«Spürst du das, wenn ich mit der Bleistiftspitze drauftippe? Augen zu!»
«Ja. Ein wenig.»
«Und wo befindet sich das Gefühl?»
«Keine Ahnung.»
«In der darunterliegenden Haut drin? In der darum herumliegenden Haut? Oder auf der Knospe selbst?»
«Ich glaube, nur um die Artischocke herum … oder vielleicht … ich weiss nicht.»
Dem Jungen sprossen mittlerweile schon fast zehn Gewächse aus dem Gesicht. Die erste Knospe, die entstanden war, war die grösste, und die darum herumliegende Haut hatte sich stark entzündet. Der Fremdkörper sah jetzt wirklich aus wie ein geschlossener Blütenstand, fest und beinah kugelförmig und mit grünen Blättern, deren Spitzen eine rötliche Färbung trugen. Seit heute morgen hatte die Artischocke sogar begonnen, einen merkwürdigen Geruch abzusondern.
Nachdem der Arzt die Struktur der Gewächse unter grellem weissem Licht und mit der Lupe untersucht hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann, seine Beobachtungen einzutippen. Der Junge wartete geduldig auf die Diagnose des Arztes.
«Was ist es?», fragte der Junge nach einer Weile, als er bemerkt hatte, dass der Arzt im Sessel nur noch dasass, nichts mehr tippte und leer in den Bildschirm starrte.
Der Arzt zuckte zusammen. Er drehte sich im Stuhl zu seinem Patienten um und stand auf. Dann sagte er:
«Ich kann im Moment leider nicht viel für dich tun, junger Mann! … … Hm!…» Er räusperte sich. «Das Krankheitsbild ist mir unbekannt. Ich kann keine sichere Diagnose stellen.»
Der Junge sass bucklig auf der Untersuchungsliege. Jetzt wurde ihm ganz heiss im Gesicht, und er musste sich eine Träne verdrücken.
«Es könnte sich um einen bakteriellen Infekt handeln», fuhr der Arzt fort, «und bei den Knospen – oder ‹Artischocken›, wie du sie nennst – könnte es sich um eine sonderbare und bis anhin kaum erforschte Hautveränderung handeln, die durch die Immunreaktion in deiner Haut hervorgerufen wird. Ich könnte versuchen, einen Abstrich zu machen oder eine Probe zu entnehmen, um das ansatzweise zu verifizieren.»
«Sie meinen also…»
«Allerdings könnten es auch grössere Organismen sein, die sich in den Poren deiner Gesichtshaut eingenistet haben. Ein mikroskopisch kleiner Wurm vielleicht, der dort drin seine Eier ablegt, oder ein Insekt. Möglicherweise ist der Ursprung deiner Hautgewächse – wenn man dem Anschein glauben will – tatsächlich pflanzlicher Natur, und es haben sich Sporen, die mit dem Saharastaub den Weg zu uns nach Europa gefunden haben, in den Tiefen deiner Haut angesammelt.»
«Bin ich denn der Einzige, der…»
«Bis jetzt schon. Mir ist kein weiterer Fall bekannt.»
Der Junge schwieg. Er blickte geradeaus auf das mit dicken Medizinbüchern gefüllte Regal. Dann fragte er ohne Hoffnung in seiner Stimme:
«Können Sie wenigstens versuchen, mir diese Fremdkörper aus dem Gesicht zu entfernen? … sie mir abzuschneiden?»
«Vom Abschneiden würde ich vorsichtshalber abraten. Ich denke, das müssten wir, wenn schon, operativ angehen. Denn einige der Knospen lassen sich, wie ich gemerkt habe, nicht so leicht aus der Haut ziehen, ohne dabei erhebliche Schmerzen zu verursachen und womöglich eine unkontrolliert geschnittene Wunde zu hinterlassen. Allerdings wäre das, so oder so, ein endloses Unterfangen, und wir müssen daher als Allererstes versuchen, das Spriessen neuer Knöllchen zu unterbinden.»
«Und wie?», fragte der Junge.
«Ich gebe dir eine Waschlotion mit, die auch zur Behandlung einer typischen Akne verwendet wird. Mit der kannst du dein Gesicht dann zweimal täglich waschen, um deine Poren von abgestorbener Haut, Schmutz, überschüssigem Talg, und was auch immer sich sonst noch darin befinden mag, zu befreien. Dies wird im besten Fall die möglicherweise vorhandenen Organismen entfernen, zumindest aber – so hoffe ich – ihnen den Nährboden entziehen. Ausserdem unterstützt die Emulsion den Heilungsprozess der Haut.
Gleichzeitig werde ich eine Probe entnehmen, und sollte der Verdacht bestehen, dass die Reaktion auf Bakterien zurückzuführen ist, dann versuchen wir es mit Antibiotika, ansonsten mit etwas anderem.
Ein Wort der Warnung noch vorweg: Du solltest beim Waschen gut aufpassen und dein Gesicht auf keinen Fall schrubben, um zu verhindern, dass du dich dabei verletzt. In ein paar Wochen werden wir sehen, ob deine Haut auf die Therapie angesprochen hat.»
Der Junge war etwas verdutzt.
«Und wieso können Sie mir nicht einfach eine Tablette oder eine Spritze geben, die das Ganze ein für alle Mal beendet, so wie Sie das sonst immer tun, wenn ich zu Ihnen komme?»
Der Arzt war schon alt und er kannte sein Metier nur allzu gut. Er trug weisse Kleidung. Manchmal, wenn er beim Reden gewisse Bewegungen mit der Hand ausführte, oder wenn man genau auf seine Mimik und seinen Tonfall achtete, dann wirkte er so, als sei er bereits seit einiger Zeit seines Berufs müde geworden. Der heranwachsende junge Mann war nicht der erste verzweifelte Patient gewesen, der in all den Jahren seines Dienstes an die Menschheit seine Praxis, und somit seinen Rat, aufgesucht und sich dabei eine Rettung erhofft hatte, die der Arzt ihm nicht bieten konnte.
Wieder auf dem Bürostuhl sitzend, rollte der Arzt näher an seinen Patienten heran.
«Nun ja», sagte er. «Erstens scheint die Erkrankung zu selten zu sein, als dass es sich lohnen würde, nach einer Heilmethode zu forschen. Und zweitens: Mal angenommen, es handle sich dabei um ein in der westlichen Bevölkerung weit verbreitetes Krankheitsbild, dann … tja, wie soll ich sagen, ohne dabei undiplomatisch zu wirken?»
Er überlegte. Dann sagte er mit leicht gesenkter Stimme, als ob er nicht wolle, dass man ihn durch die Tür des Untersuchungszimmers hindurch höre:
«Die Pharmaindustrie verdient ihr Geld letzten Endes mit Menschen, die krank sind.»
Enttäuscht, und auch etwas entmutigt, verliess der Junge die Praxis und ging nach Hause. Der Arzt hatte ihm ein Fläschchen von der besagten Seife mitgegeben.
Fortan wusch er sich, wie der Arzt ihm verschrieben hatte, zweimal täglich mit der Emulsion über der Badewanne oder in der Dusche, und er tat dies mit heissem Wasser, bis sein Gesicht ganz warm und rot wurde. Vorsichtig rieb er mit der Seife seine Gesichtshaut ein, und er versuchte dabei, mit den Fingerspitzen um die spriessenden Knospen herumzukommen und sie möglichst nicht zu berühren.
Nachdem er sich gewaschen hatte, bespritzte er sein Gesicht mit desinfizierendem Alkohol, das auf seiner vom heissen Wasser gereizten Haut nur so brannte. Dies hatte ihm der Arzt zwar nicht verschrieben – und er hätte es ihm wohl kaum geraten –, doch der Junge wollte keine Möglichkeit ungetestet lassen.
Von Tag zu Tag sprossen neue Knöllchen aus den Poren. Sie wucherten, wurden grösser, bis sie sich am Ende dunkelgrün verfärbten und nach ein paar Tagen abfielen.
Auf seiner Haut blieb ein mehr oder weniger tiefer und zunächst feuchter Krater zurück, eine weiss-gelblich eiternde Einkerbung, die allmählich trocknete und dunkelviolett verkrustete. Je mehr Zeit verging, desto mehr Narben hatte der Junge in seinem Gesicht, das bald eher der hinteren Seite des Mondes glich als dem Antlitz eines heranwachsenden und ansonsten gesund wirkenden jungen Mannes.
Die abgefallenen Knospen sammelte er in einem grossen, mit etwas Wasser gefüllten Glaskrug. Er wollte sehen, was mit ihnen geschehen würde, ob sie wohl ausserhalb seines Körpers wie richtige Pflanzen weiterlebten oder eines Tages vergammelten. Doch nichts dergleichen geschah.
Unter diesen Umständen kann ich unmöglich das Haus verlassen, dachte er. Und in der Tat konnte er sich, auf einen Anruf hin, von seinem Arzt für ein paar Wochen krankschreiben lassen, bis er zur nächsten Untersuchung vorbeikommen würde. Den seelischen Schaden, den der Junge in der Schule durch die Blicke und Bemerkungen seiner Mitschüler erleiden würde, wollte der Arzt ihm doch ersparen.
Einmal aber verliess der Junge dennoch das Haus, um spazieren zu gehen. Er hatte sich seit Tagen in sein Zimmer zurückgezogen und brauchte jetzt dringend etwas Sonnenschein und frische Luft.
Manche Leute, die ihm draussen begegneten, machten einen grossen Bogen um ihn herum, kaum hatten sie sein ausserirdisches, von Grünzeug, Kratern und Narben entstelltes Gesicht wahrgenommen. Andere wiederum versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Sie liefen nahe an ihm vorbei, als ob nichts wäre, und sie gaben sich alle Mühe, ihn dabei nicht anzustarren. Doch der Junge fühlte jeden ihrer heimlichen Blicke, die sie ihm aus den Augenwinkeln heraus zuwarfen, und er glaubte schon, ihre Gedanken laut und deutlich in seinen Ohren hören zu können, sobald sie an ihm vorbeimarschiert waren.
Sie ekelten sich, und manche hatten Angst vor ihm. Es war die Furcht, die man vor einem Aussätzigen hat; die Furcht, von einer unheilbaren Krankheit befallen zu werden und dasselbe Schicksal erleiden zu müssen, wie der, der sie angesteckt hat.
Einer, ein besonders reich und eitel wirkender Mensch, schützte sein Gesicht mit den Händen, als er auf die Strasse auswich und in einem grossen Bogen um den Jungen herumging, gerade so, als ob ihn das Gewächs, das aus der Stirn, der Nase, den Wangen und dem Kinn des Jungen hervorstach, ihn anspringen und sein schönes, glattes und teuer gepflegtes Gesicht bei der kleinsten Berührung entstellen könnte. Er wäre fast von einem Auto angefahren worden.
Niemals wird sich ein Mädchen für mich interessieren!, dachte der Junge traurig. Seine Stimmung hatte den nächsten Tiefpunkt erreicht. Am liebsten wäre er gleich wieder heimgekehrt und hätte sich in seinen Bau zurückgezogen, hätte sich vor allen Menschen unter der Bettdecke versteckt.
Lieber sterben, als diese Sinnlosigkeit einen weiteren Tag lang zu ertragen? Aber was hätte das schon gebracht.
Ich werde für immer zu Hause bei meinen Eltern bleiben müssen, eingesperrt in mein Zimmer. Man wird mir das Essen vor die Tür stellen.
«Mutter! Vater! Bleibt hier bei mir und kommt herein! Ich bin es doch, euer Sohn! Ihr braucht euch vor eurem Sohn nicht zu fürchten, wirklich nicht!»
Ich höre, wie einer von ihnen das Tablett vor die geschlossene Türe stellt. Dumpf klingen die Schritte auf dem Fussboden, als sich Mutter, Vater und manchmal beide zusammen im Gang wortlos von meinem Zimmer entfernen.
Wie jeden Tag mache ich nach dem Verzehr des Abendbrotes brav meine Hausaufgaben. Wenn meine Arbeit getan ist, schiebe ich die fertigen Papiere unter der Tür hindurch und hoffe auf die Gnade eines Mitschülers, meine Resultate am kommenden Morgen abzuholen und sie den Lehrern zur Korrektur auszuhändigen. Am Wochenende, während meine Freunde sich in Bars amüsieren und in Clubs tanzen gehen, Zigaretten rauchen und Bier trinken, das Leben in vollen Zügen auskosten, Mädchen treffen, sie küssen, sie bis auf die Unterhosen ausziehen, mit ihnen ihre Spiele treiben und sich in sie verlieben, werde ich gute, alte Bücher lesen und mir schmutzige Filme ansehen, werde im Bett liegen und die leere Decke anstarren, bis diese sich mit Fantasien füllt, und sobald es ruhig im Haus ist und es dunkel wird und meine Eltern zu später Stunde ihr Schlafzimmer betreten haben, …
Mein Leben ist vorbei. Warum ist es denn jetzt schon vorbei, da ich doch noch so jung und frisch bin?
Ich möchte diese kleinen Fremdkörper in meinem Gesicht nicht ständig zählen und berühren müssen, sie mir im Bad im Spiegel anschauen und im Bett in meinem Kopf mir vorstellen müssen, aber sie lassen mir keine Ruh. Ich kann nicht schlafen.
Die Krankheit wusste nichts von seinem Schicksal. Sie hatte sich diesen einen Jungen hier ausgesucht – oder besser gesagt, ihn befallen –, wie sie auch gerade so gut jeden anderen Menschen hätte befallen können. Es war ihr gleichgültig.
Dieser Organismus – oder was auch immer es gewesen sein mochte – besass kein Gewissen, kannte keine Moral, kannte weder Gut noch Böse. Er war einfach. Er folgte dem Grundgesetz der Natur des Überlebens und Sich-Vermehrens. Er besass keine Gefühle, wie sein Wirt welche besass, dessen Leben er zerstörte.
Er wusste nicht, dass er ein Leben zerstörte.
‹Dies hier ist das sinnloseste Gewächs›, dachte der Junge, ‹das sinnloseste Erdengeschöpf überhaupt, das je existiert hat.› Er betrachtete den Krug, worin er die abgefallenen grünen Überbleibsel seiner Hautkrankheit sammelte.
Als die Eltern den Fernseher in der Stube ausgeschaltet hatten und zu Bett gegangen waren, war es ruhig im Haus geworden. Der Junge lag im Bett, starrte die Decke an und er horchte in sich hinein; und er horchte in die Krankheit hinein, die auf ihm lebte und die jetzt in ihm lebte und die im Laufe der vergangenen Tage nun Teil seiner Selbst geworden war.
Wenn es tatsächlich einen Gott gäbe, dachte er, dann müsste sich dieser für seine hässliche Schöpfung in Grund und Boden schämen. Er hätte eine ordentliche Tracht Prügel verdient – nein, viel schlimmer, er hätte den schmerzhaftesten Tod verdient, den man sich vorzustellen wagt.
Und weiter horchte er. Dort drin – irgendwo, er konnte den Ort nicht genau lokalisieren – spürte er die Knospen tiefere und immer grössere Wurzeln schlagen. Und dort auch, am selben wunden Punkt, wo sich die Krankheit in ihm eingenistet hatte, dort auch hörte er nun leise dies Mysterium rauschen.
Ja, mit einem Gürtel würde ich seinen bleichen und von Altersflecken übersäten Rücken peitschen. Ich würde meinen sauren Speichel in die offenen Wunden spucken und, mit der schwingenden Axt in der Hand, dem ganzen Elend hier ein Ende setzen, indem ich ihm den weissen Schädel in zwei Hälften spaltete. Ich, der hässlichste Mensch der Welt, würde eine Gottheit besiegen und diesen alten, weisen und ach so klug und gütig geglaubten Kerl – diesen Asketen hier, der keine Lust kennt, der kein Leben kennt, sondern nur Regeln und Naturgesetze – töten und auf seine ganze Schöpfung scheissen, wie er heut auf mich geschissen hat, gestern auf mich geschissen hat, vorgestern auf mich geschissen hat …, wie er auf mein ganzes zukünftiges Leben spucken und scheissen will.
Das Herz des Jungen sprang auf bei dieser Vorstellung, und es lachte, denn heute waren seine Gedanken frei und gut.
Leise stand der Junge auf, verliess das Zimmer und schlich sich unter die Dusche. Er wollte seine Eltern nicht wecken. Er fühlte sich schmutzig, obschon er sich seit Ausbruch der Krankheit gründlicher und öfter reinigte als die meisten Menschen, die er kannte.
Er liess das Wasser laufen, so heiss er nur konnte, und er schmierte sich seine von dicken, rot umrandeten Knospen und tiefen Kratern entstellte Haut mit der Seife ein. Nun begann er, mit einer Bürste sein Gesicht zu schrubben.
Die grösseren und reiferen Knospen fielen ab und blieben im Abfluss stecken. Blut rann, mit dampfendem Wasser durchmischt, seinen Bauch und seine Beine hinunter, als er fester schrubbte und nun auch die etwas kleineren und weniger reifen Knospen mit den kratzigen Borsten aus der Haut riss.
Vielleicht wird eines Tages etwas aus ihnen entstehen, dachte der Junge, als er die herausgerissenen Knospen mit ihren Wurzeln und den Hautresten dran am Boden der Dusche im Wasser schwimmen sah. Dass ich das Haus niemals wieder verlassen werde, das ist gewiss.
Zwar hatte dieses doch so irdische Gewächs ihm sein Gesicht (und somit seine Pforte zu den Menschen) genommen, doch seine freien und gesunden Gedanken konnte es ihm nicht nehmen, wenn er dies nicht zuliess. Nichts und niemand konnte das.
Ja, seine Gedanken waren gesund und gut, und sie waren richtig, das wusste er.
Und solange er noch frei und gesund denken konnte – dies wurde ihm jetzt bewusst –, gab es nichts, das er zu befürchten hatte. Und weiter mochte er zwar vielleicht der hässlichste Mensch der Welt und zugleich eingesperrt sein, doch machte ihn das gleichzeitig auch zum einzigartigsten Menschen und zum freiesten, den es in seiner eigenen Vorstellung nur geben konnte.
Am Morgen stand der Junge auf und er wusch sich nicht. In seinem Schlafzimmer befand sich kein Spiegel. Er entschied sich, heute das Bad nicht aufzusuchen.
Er öffnete das Fenster und blickte in die Welt hinaus. Die Luft war frisch und lebendig; sie war geduldig. Die Sonne strahlte in sein Zimmer herein, erfüllte es mit Licht und spendete seiner Haut Wärme.
Die Wolken flirrten und zitterten am Himmel wie Rauchschwaden, waren verzupft, zogen vorbei und überschlugen sich wie Wellen in einem blauen Meer, doch so, als seien sie bloss Kulissen – ein Hintergrund, vor dem sich das eigentliche Leben in diesem Moment abspielte. Sie schmeckten vollmundig.
Schüler waren auf dem Weg zur Schule. (Es war ein Montag.) Ausnahmsweise verspürte der Junge nicht den geringsten Wunsch, teilzuhaben.
Heute waren seine Gedanken froh und gut.
mf.