Der Regentrommler

Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Januar–Februar 2021.

Er stand jeden Morgen um halb sieben Uhr früh hinaus in seinen Garten, kniete in einer betenden Position zu Boden mit seiner Trommel in den Händen, stellte diese vor sich hin und begann, den Regen herbeizutrommeln.

Er machte dies nun schon seit einigen Wochen und Monaten. Er hatte eine Uhr dabei, und wenn sie Punkt acht Uhr schlagen würde, so stünde er auf, nähme seine Trommel aus der Wiese und ginge zurück ins Haus, unabhängig davon, ob es bereits geregnet hatte oder nicht.

Es ist ein frustrierendes Geschäft!, hatte er sich schon manche Male selbst zugesprochen. Ich trommle jeden Tag und lege danach in einem Heft meinen Bericht ab: wie ich trommelte – wie laut oder wie leise und wie schnell –; woran ich gedacht habe während des Trommelns, oder ob ich überhaupt an etwas gedacht habe; ob ich die Augen geschlossen hielt oder offen, ob ich gen Himmel schaute dabei oder nicht … und natürlich – das durfte ich am Abend auf keinen Fall vergessen – trage ich ein, ob an jenem Tag auch tatsächlich ein Tröpfchen Regen vom Himmel fiel. Manchmal scheint mir das Regentrommeln zu gelingen und manchmal nicht. Was mache ich richtig an den Tagen, an denen es regnet oder schneit; was falsch an all den andern, an denen die Sonne scheint?

An gewissen Tagen regnete es bereits, als sich der Regentrommler mit den Knien voran in die nasse, vom Regen aufgeweichte Wiese setzte.


Der Regentrommler ging einer gewöhnlichen Arbeit nach. Um Punkt neun Uhr spätestens stand er in seinem Büro. Er war unter anderem dafür zuständig, Akten zu sortieren, deren Inhalt in den Computer einzutippen und sie dann physisch am richtigen Ort abzulegen. Er nahm die Post entgegen – die Pakete und die Briefe –, sortierte sie und verteilte sie anschliessend an seine Arbeitskollegen. Er mochte seinen Beruf – in gewissem Sinne sogar mehr als das Regentrommeln –, weil er ihm eine Sicherheit bot, die er sich beim Trommeln nur erträumen konnte. Und dennoch fehlte ihm etwas Wesentliches in seinem Leben, wäre er nur Aktenmensch und nicht zugleich auch Regentrommler gewesen.

«Warum lässt du es nicht einmal für eine Weile sein?», riet ihm einst eine es nur gut mit ihm meinende Kollegin bei der Arbeit. Sie war die einzige im Geschäft, mit der er sich über seine allmorgendliche Beschäftigung unterhalten hatte. Überhaupt war sie der einzige Mensch auf der Welt, der davon Kenntnis besass; denn mit Ausnahme der Schildkröte, die der Regentrommler sich als Haustier hielt, lebte dieser allein.

«Warum ich es nicht lasse?», antwortete er ganz verlegen. «Ich weiss nicht. Weil ich es einfach nicht sein lassen kann. Vielleicht tue ich es, wie frustrierend und fruchtlos es auch meistens sein mag, nur deshalb, weil es mich traurig macht, unglücklich macht, wütend und rastlos macht, wenn ich es nicht tue.»

«Ich verstehe das», sagte sie. «Das ist so, wie wenn ich über die grossen Sommerferien nicht im Chor singen kann, weil wir gerade eine Sommerpause einlegen. Dann fehlt mir das Singen ganz fest, und auch die Menschen fehlen mir ganz fest.»

Doch so war es nicht, es war anders. Das dachte der Regentrommler zumindest, als er den Vergleich seiner Kollegin hörte.


Am Abend sass der Regentrommler zu Hause vor dem Fenster neben dem Käfig seiner Schildkröte, worin sich die Schildkröte soeben einen Zentimeter nach rechts bewegt hatte, und er trank einen heissen Tee. Die Sonne ging unter, und der Himmel war ohne Wolken. Schon wollte der Regentrommler aufgeben – für eine gewisse Zeit wenigstens, wie es ihm seine Kollegin von der Arbeit geraten hatte –, um auf bessere Ideen zu kommen vielleicht. Er könnte versuchen, im Liegen zu trommeln oder mit den Füssen. Er könnte versuchen, am Morgen ohne Bekleidung in den Garten zu stehen, in der Wiese barfuss umherzugehen und die Trommel mit der einen Hand in die Höhe gestreckt über seinen Kopf zu halten, während er mit der andern auf das Fell der Trommel schlug. Das hatte er noch nie versucht.

Es kam ihm lächerlich vor. All seine Versuche kamen ihm lächerlich vor, wenn er jetzt genau über sie nachdachte und ganz ehrlich mit sich selber war. Er wusste nicht einmal, für wen er es tat, dies Regentrommeln, für wen er jeden Morgen den Regen herbeizutrommeln versuchte.

«Für die Menschheit», sagte er sich. Doch wer war denn das, diese Menschheit?

Dass es nie regnet, ist doch genau ein Zeichen dafür, dass zu wenige Menschen auf dieser Welt regentrommeln, dachte er. Und irgendjemand muss es ja tun; irgendjemand muss einmal damit anfangen und darf niemals klein beigeben, darf niemals aufhören, und mag der Weg zu dieser Berufung noch so hart und steinig sein. Und dieser Jemand wollte er sein. Er hatte ja ansonsten nicht viel zu bieten. Die Akten wälzen, das konnte auch ein andrer übernehmen und später einmal vielleicht sogar eine intelligente Maschine. Würden alle Menschen – oder zumindest ein grosser Teil davon – jeden Morgen regentrommeln, so wie er es tat, dann hätten wir Regen und Regen und Regen im Überfluss, und die Welt wäre endlich so, wie er sie sich wünschte.

Aber sie war anders. Sie machte scheinbar mit ihm, und mit allen Menschen überhaupt, was sie wollte. Sie folgte ihren eigenen Gesetzen, ihrem eigenen Rhythmus und Trommelschlag, ohne dass der Regentrommler ihn der Welt vorzugeben brauchte.


Am darauffolgenden Morgen erwachte der Regentrommler aus einem dieser Träume, die ihn den ganzen Tag lang verfolgten und beschäftigten und sich so echt anfühlten wie das wahre Leben.

Er hatte von einem Tag im Büro geträumt, ein ganz gewöhnlicher zunächst. Er hatte sich einen Kaffee geholt und mit seiner alleinstehenden, da geschiedenen und kinderlosen, Kollegin einen Schwatz begonnen. Es war dieselbe, die ihm den Rat erteilt hatte. Er mochte sie sehr, schien sich aber nie so ganz sicher zu sein, ob sie ihn auch mochte, auf dieselbe Weise und im selben Masse wie er sie mochte.

Als sich der Regentrommler im Traum an seinen Arbeitsplatz setzte, da fiel ihm ein, dass er heute Morgen vergessen hatte, im Garten zu trommeln! Wie konnte das nur geschehen?! Er öffnete die Schublade unter seinem von Papieren und Akten begrabenen Schreibtisch, da er im Traum glaubte, er würde die Trommel in dieser Schublade aufbewahren. Aber die Trommel war nicht da.

Der Regentrommler geriet in Panik! Ihm wurde heiss und er öffnete alle Fenster. Draussen stürmte es und es blitzte. Heftiger Regen setzte ein. Der Regen strömte seitwärts durch die Fenster. Die Berge, die man normalerweise von hier aus nicht sehen konnte, zerbrachen; sie stürzten ein zu Schutt und Asche, und auch die hohen Häuser rundherum stürzten ein, währenddessen die Menschen, Erwachsene wie Kinder, um ihr Leben schrien. Es war eine Sintflut, wie er sie noch nie erlebt hatte.

«Rettet die Akten!», rief sein Vorgesetzter. Wie wild rannte dieser im Büro umher, und er befahl all seinen Untergebenen, die Akten vor der Zerstörung des Regens zu retten. Er war auf alle und alles wütend. Am meisten aber war er auf den Regentrommler wütend. Dessen Tisch war nass, und die Papiere, die darauf lagen, waren vom Regen, der mittlerweile sogar schon aus der Decke tropfte, ganz aufgeweicht und durchnässt. Sie zerfielen zwischen den Fingern des Regentrommlers, als dieser versuchte, sie in die Hände zu nehmen.

«Was hast du bloss angerichtet?!», schrie der Vorgesetzte ihn an. «Sieh nur, was du getan hast, du und deine dumme Trommel! Du bist gefeuert!»


Er erwachte; kurz darauf erklang der Weckton. Die Trommel stand neben seinem Bett, wo er sie stets sorgfältig hinstellte, bevor er vor neun Uhr das Haus zur Arbeit verliess, und wo sie artig auf ihn wartete für den nächsten Tag.

Die Schildkröte öffnete ihre Augen, als er ihr das morgendliche Futter und eine Schale frisches Wasser in den Käfig stellte.

Er setzte sich an den kleinen Küchentisch, und wie jeden Morgen ass er sein Butterbrot mit Honig, trank einen frisch gebrühten Kaffee und dazu ein kaltes Glas Milch, und er atmete jetzt tief ein vor Erleichterung, dass dies alles nur ein böser Traum gewesen sei.

Neben dem Teller lag das Heft bereit mit dem Schreiber bei jener Seite eingeklemmt, die für den Bericht des heutigen Tages vorgesehen war. Er entschloss sich, das Heft und den Schreiber umgehend zu entsorgen.

Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb sieben. Dann schaute er aus dem Fenster. Der Himmel machte keineswegs den Eindruck, als käme es draussen bald zu einem Regenguss.

Der Regentrommler sagte sich:

«Wenn ich es heute nicht schaffe, Regen herbeizutrommeln – wenn heute der Regen nicht fällt –, dann brauche ich nie wieder in meinem Leben zu trommeln.»

Er schnappte sich seine Trommel aus dem Schlafzimmer, verliess das Haus zum Garten, und er entblösste sich bis auf die Schuhe. Falls der Regen einsetzte, so wollte er ihn doch diesmal auf seiner nackten Haut spüren.


Der Regentrommler kniete nieder und stellte die Trommel vor sich in die Wiese. Dann holte er einmal tief Luft und atmete langsam aus. Er schloss die Augen und sagte zu sich in Gedanken, doch mit viel Inbrunst:

«Heute wird der Regen kommen, heut wird es regnen; heute wird der Regen kommen, heut wird es regnen …»

Seine Finger berührten das Fell der Trommel. Er begann zu trommeln. Die Uhr hatte er übrigens im Haus gelassen bei seinem Heft, von dem er überzeugt war, es in Zukunft nicht mehr zu benötigen.


Nach etwa einer Stunde war der Regentrommler aus seiner Trance erwacht. Er öffnete die Augen. Am Himmel sah er eine einzelne kleine und etwas dunklere Wolke davonfliegen. Mit den Händen berührte er das trockene Gras.

Er stand auf und ging ins Haus. Die Trommel liess er im Garten stehen.

Bevor er aber seine Kleider wieder anziehen und zur Arbeit gehen konnte, musste er das Bad betreten, um seinen feuchten Rücken und seine durchnässten Haare mit einem frischen Tuch trocken zu reiben.


mf.

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