Eine Betrachtung von Marco Furgler, entstanden im Januar–März 2019.
Du öffnest deine Augen nicht. Du hast lange auf diesen Moment gewartet, ihn in deinen Träumen gesehen, Nacht wie Tag, ihn dir vorgestellt und wie du dorthin gelangen kannst; und es ist dann doch anders gekommen, als du erwartet hattest. Wenn es nicht deines innern Feuers wegen gewesen wäre, das heisser brennt als je zuvor, dann hättest du es nicht so weit geschafft, das weisst du.
Dein Rücken kühlt langsam ab, dein Gesicht aber ist noch ganz warm und verschwitzt; du spürst die Tropfen auf deiner Stirn. Die Feuchtigkeit der Erde durchdringt deinen Pullover und deine Lungen füllen sich prall und seit Jahren einmal wieder mit der frischesten aller Lüfte. Sie schmerzt beinah im Hals, diese Luft, dafür verstehst du es, dich weich zu betten.
Du horchst. Sowohl hinaus in die Weite horchst du, aber noch viel schärfer horchst du jetzt in dich selbst hinein, wo alsbald Ruhe herrscht. Wie am Meere zu, an einem Strand, rauscht es um dich herum und es tropft. Und du fasst mit deinen Händen den mit Nadeln bedeckten, kühlen Waldboden. Es ist friedlich.
Du gedenkst der Zeit, die du hinter dir gelassen hast, die du eben noch Gegenwart nanntest, jetzt aber schon Vergangenheit ist und bald für dich auch Vergangenheit bedeutet. Du kannst es kaum glauben, wie sehr dich diese Zeit gefesselt hatte. Du denkst darüber nach und erkennst, wie dünn doch alles ist, wie flüssig, wie flüchtig und durchdringbar, wie dünn es ist, obschon es dann, im Augenblick, so wirkt, als wäre es aus zähem, klebrigem Schleim gemacht, den du allein nicht von dir abzuwerfen vermagst.
Jetzt stehst du auf und vor deinen Augen, zwischen zwei Baumstämmen, öffnet sich eine Pforte, du allein kannst sie sehen, diese Singularität, der du dich mit Vorsicht und Ehrfurcht, mit Angst und mit Neugier näherst, mit jenem kleinen lockenden Gefühl in der Brust, das du spürst, wenn du vor einer ungewissen Zukunft stehst… und du streckst den Arm aus, berührst diese unsichtbare Membran, die sogleich den Schleim von deiner Hand abwirft, mit den Fingerspitzen, bald mit deinem ganzen Körper berührst du sie, wirfst den ganzen ekligen Schleim ab von dir, als du deine Erinnerungen jener Zeit aufzucken siehst, sie vor dir ins Schwarz hinein projiziert siehst, und diese Pforte dich, kaum hast du es erfasst, auf die andere, fremde, dir gegenüberliegende Seite transportiert… … …
Die Gesetze des Waldes sind eigenartig; du verstehst sie nicht auf Anhieb, aber es macht dir nichts aus, denn du weisst, dass du endlich die Möglichkeit hast, dich dem Studium ihrer zu widmen…
Vor dir eine hohe Tanne: prachtvoll, erhaben, beneidenswert, mit vielen fruchtig-grünen Nadeln geschmückt und mit grossen, stolzen Tannzapfen. An ihrem fetten Stamm hängt ein Täfelchen mit Aufschrift… Doch etwas stimmt mit ihr nicht!
Die Wurzellosen sind wie Kletten. Sie verhaken sich in deinen Haaren, du trägst sie eine Weile mit dir herum, bis sie sich von dir abstreifen und fallen lassen. Du hast schon viele davon gesehen, sie erlebt, sie ausgiebig studiert bei der Arbeit, beim Einkauf, vielleicht auch früher schon als Kind in der Schule… Sie sind von den anderen Menschen kaum zu unterscheiden – denn: erst wer mit einem von ihnen näher vertraut ist, weiss sie zu erkennen und wer sie sind.
Sie verstehen sich darauf, ein gutes Äusseres zu geben. Sie passen sich an. Sie sind, wer sie gerade sein müssen, und sind morgen schon nicht mehr, wer sie heute sind, geschweige denn gestern waren.
Hüte dich vor ihnen! Meide jeglichen Kontakt mit ihnen! Denn du kannst ihnen nicht trauen, wie auch sie dir nicht trauen werden, wiewohl sie alles dafür tun, diesen Umstand vor dir zu verstecken. Wenn du das Pech hast, einen solchen zu erblicken, dann solltest du so schnell wie möglich die Flucht ergreifen: wenn du dies versäumst, riskierst du es, dass ein Wurzelloser dich deiner eignen Wurzeln beraubt.
Die Wurzellosigkeit färbt ab. Sie ist eine Krankheit, die sich in unserer Gesellschaft ausgebreitet hat. Aber sie kann gebrochen werden…
Es ist ihnen eigen, diesen Wurzellosen, dass sie sich schnell fortbewegen: sei es, indem sie die Hierarchien, gleich Eichhörnchen an einem Stamme, flink hinaufklettern; sei es, indem sie sich seitlich, gleich Affen von Baum zu Baum, von einem Vorhaben zum nächst grösseren Vorhaben schwingen, das ihr unentwegt arbeitender, nur in ihrem eigenen Dienste stehender Spürsinn erhaschte. Und glaube mir, sie finden ihren Weg. Sie sind schnell ohne ihre Wurzeln. Sie haben keine Familie, keine Herkunft, keinerlei Erbe, keine Tradition, kein Land, keine eigne Sprache: ihre Sprache ist die ihres jeweiligen Herrn, dem sie sich gerade, dem äussern Anschein nach, unterworfen haben. Aber es trifft sie keine Schuld. Sie sind Söhne und Töchter einer Zeit, in der es kaum noch innere Werte gibt; während die wenigen, die es gibt, uns stets gegenseitig im Verborgenen bleiben.
Wisse: Die Gemeinschaft allein waltet mit dem brennenden Schwert.
Deine Wurzeln sind dir dein Ballast, den sie nicht besitzen, aber auch dein Halt, ohne den sie zu leben sich ausgesucht haben, hatten sie jemals eine wirkliche Wahl gehabt. Im Grunde genommen sind sie wie Hunde: dem Wort ihres Meisters ausgesetzt, dem sie zu folgen haben, nur, dass sie sich ihre Meister aussuchen und sie allemal wechseln. Sie glauben, sich ohne Wurzeln nicht nur schneller sondern obendrein leichter und freier bewegen zu können. Doch tief im Innern wissen sie, dass dies eine Lüge ist, die sie dann und wann hervorbringen, um sich selbst zu beruhigen. Von Allen sind die Wurzellosen nämlich auch die besitzlosesten: sie besitzen keine eigenen Wurzeln.
Im Übrigen gehörte ich einst zu ihnen, zu diesen Wurzellosen, aber heute nicht mehr…
Ich brauchte viel Geduld, meine Wurzeln nachwachsen zu sehen, aber es ist möglich und jede Mühe wert. Nimm sie dir, Geduld und Zeit, wenn du deine Wurzeln verloren hast, wenn sie dir gestohlen wurden, wenn sie dir verkümmert sind. Lass deine Wurzeln wachsen und sich ausbreiten. Erst, wenn es soweit ist und du wieder fest im Boden stehst, wirst du erkennen, was du dir vorgemacht hast und welchen Preis du dafür bezahlen musstest, ohne Wurzeln zu sein. Und dann…
Vorausschauend sendete ich dir diese Nachricht, baute eine Brücke auf zu dir. Du bist meinen Tafeln gefolgt, bist auf der andern Seite angekommen. Und bald schon werden wir uns begegnen…
Du schliesst die Augen. Lange hast du auf diesen Moment gewartet, ihn dir Nacht wie Tag vorgestellt und wie du dorthin gelangen kannst; und es ist dann doch anders gekommen, als du erwartet hattest:…
…besser nämlich, als du es dir je erträumen wolltest.
mf.