Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Januar–Februar 2021. Dies ist der erste von zwei Teilen. Hier gelangen Sie zum zweiten Teil.
Ich hielt meine kleine Tochter bei der Hand, als wir an einem nebligen Wintertag an einem Schaufenster vorbeikamen und davor stehen blieben. Es war ein Lampengeschäft, und in seinem Schaufenster stellte es Lampen aller Art aus.
«Mami, können wir bitte da reingehen?»
Mir froren schon fast die Ohrmuscheln ab, also hielt ich es für eine gute Idee, von den Pflichteinkäufen, für die wir mit dem Auto in die Stadt gefahren waren, eine Pause einzulegen und diesen Laden hier zu betreten.
Es war ein kleines Geschäft, wirklich nichts Grosses, keine Ladenkette oder etwas Derartiges. Entsprechend eng war der Raum, und der Laden wirkte umso kleiner und enger, als jeder freie Zentimeter, der nicht zum Gehen gebraucht wurde, mit Lampen ausgestellt war. Stehlampen, Hängelampen über unseren Köpfen, solche mit warmem Licht, solche mit kaltem… in der Höhe verstellbare, neigbare, hübsche bunte, elegante moderne… Lampen für Bäder und für das Kinderzimmer… es war alles dabei, die ganze Palette auf engstem Raum. Vermutlich wurde der Laden von einer einzigen Person geführt und war von derselben so liebevoll eingerichtet worden.
Meine Tochter hatte sich von mir längst schon losgemacht und war dabei, die vielen kleinen und grossen Lichter zu betrachten, sie ein- und auszuknipsen.
«Guten Tag! Wie kann ich Ihnen behilflich sein?», sagte ein Mann. Er sah in etwa so antik aus wie die meisten der Lampen selbst. Er war gross und dünn und wie ich um die Vierzig herum, hatte nach hinten gekämmtes Haar und trug ein dünnes Bärtchen über seiner Oberlippe wie ein Pubertierender. Er trug keine Brille.
«Vielen Dank!», sagte ich. «Wir schauen uns nur ein wenig um … es ist verdammt kalt draussen!»
«Wie Sie wünschen. Wenn Sie Fragen haben, bin ich gerne für Sie da. Sie können einfach nach mir rufen.»
Der Mann liess uns wieder alleine und verschwand durch eine Tür in ein Hinterzimmer. Ich gab meiner Tochter eine leere, braune Papiertüte in die Hand, ohne ein Wort zu sagen.
Für meine Tochter hatte ich eine heisse Schokolade bestellt. Ich selber trank einen Rumpunsch. Auf dem Weg vom Laden zur Bar waren wir schweigend nebeneinander gegangen.
«Wie viele hast du?», frage ich sie jetzt.
«Vier.»
«Zeig mal her.»
Sie gab mir die Papiertüte zurück. «Gut gemacht», sagte ich. Die Tüte hatte ein ordentliches Gewicht. Es wunderte mich, dass meine Tochter sie den ganzen Weg hierher tragen wollte und vor allem konnte, ohne dabei auch nur einmal zu jammern.
Ich sah kurz rein, dann stellte ich sie unter den Tisch zwischen unsere Beine. Ich blies an meinem Punsch und nahm einen kräftigen Schluck.
«Mama, was machen wir jetzt mit ihnen?», fragte meine Tochter.
«Wir verkaufen sie natürlich», sagte ich, «wenn das nächste Mal im Quartier Flohmarkt ist. Oder wir stellen sie heute noch ins Internet. Wie du willst. Und wenn dir eine davon gefällt, kannst du sie behalten.»
«Mir gefallen alle!», quiekte sie sogleich.
«Das glaub ich dir gern, mein Schatz, aber vier Lampen in deinem Zimmer? Das ist zu viel des Guten. Wenn du sie behalten willst, musst du dich für eine entscheiden.»
«Aber ich will sie doch alle haben!»
Ich stellte meinen Punsch auf die Untertasse und nahm ihre Hand, die sie in ihrem Schoss zu einer Faust geballt hielt.
«Man kann im Leben nicht immer alles haben, weisst du? Das solltest du in deinem Alter doch wissen. Du bist doch jetzt schon gross, oder etwa nicht?»
Ich lächelte und sie nickte verhalten mit dem Hundeblick, den sie aufgesetzt hatte.
«Na eben, dann weisst du’s ja. – Man muss arbeiten, mein Schatz, verstehst du?… etwas tun, um etwas anderes dafür haben zu dürfen.»
Sie schmollte. «Hab doch schon was getan!», sagte sie beleidigt. Sie riss sich los und verschränkte ihre Arme.
«Gut», sagte ich und überlegte. «Wir stellen die Lampen für einen Monat ins Internet, und du darfst alle, die ich bis dann nicht verkaufen kann, behalten. Abgemacht?»
Meine Tochter schmollte noch immer, aber ich ging nicht weiter darauf ein.
Ich zerknüllte die Rechnung, die eingerollt in einem Schnapsgläschen steckte, und sagte leise:
«Komm, wir gehen. Schnell!»
«Oh, entschuldigen Sie, junger Mann! Uns fehlen genau noch fünf Franken für die Parkgebühr. Könnten Sie so gut sein, und uns die leihen? Wir kommen sonst nicht aus dem Parkhaus.»
«Fünf Franken, sagten Sie? Hm. Das ist ganz schön viel, um das einer fremden Person einfach so zu ‹leihen›. Die werd ich ja wohl nie wieder sehen.»
«Es ist wirklich dringend… Mein Mann ist zu Hause und liegt krank im Bett. Wir waren in die Stadt gefahren, um ihm Medikamente zu kaufen, die er unbedingt braucht. Sehen Sie?»
Ich zeigte dem jungen Herrn eine Plastiktüte, die ich in der Hand hielt, mit dem Logo einer Apotheke drauf. Das hatte schon zwei-, dreimal funktioniert.
«Haben Sie es schon mal mit der Kreditkarte versucht? Die Automaten brauchen heutzutage kein Bargeld mehr. Aber hey, wem sag ich das? Sie sind ja keine Oma!» Er lachte.
«Mit der Kreditkarte? Ach ja, Sie haben recht! Wie konnte ich das nur vergessen. Danke. Ich werd’s gleich mal versuchen.»
Ich nahm die abgelaufene Kreditkarte hervor, die ich für solche Fälle immer dabei hatte.
«Schönen Tag noch.»
«Nein, warten Sie!»
Das Bezahlen mit der Kreditkarte ging, wie erwartet, nicht. Jetzt stupste ich meine Tochter mit der verdeckten Hand leicht an ihrem Rücken. Sie begann auf der Stelle zu weinen.
«Dieser dumme Automat will meine Karte nicht akzeptieren. Ich bitte Sie!»
«Na gut, haben Sie denn wirklich kein Münz mehr?»
Ich schaute im Portemonnaie nach. «Etwa einen Franken fünfzig könnte ich vielleicht noch zusammenkratzen», sagte ich.
«Also gut, hier. Nehmen Sie.» Er drückte mir vier Franken in die Hand.
«Vielen Dank! Sie retten meinem Mann gerade das Leben!»
Als wir das Ticket entwertet hatten, öffnete ich den Kofferraum meines Porsches, und wir stellten die vier Lampen und die sonstigen Besorgungen dort rein und fuhren nach Hause.
Zürich ist eine Drecksstadt, dachte ich, als wir raus aufs Land fuhren. Aber wenn man jemand sein will, muss man hier wohnen – oder zumindest in der Nähe. Es gibt in diesem Land einfach keine Alternativen.
Meine Tochter döste. Der Temperaturunterschied zwischen draussen und drinnen im Auto hatte sie erschlagen.
Mittlerweile war schon fast ein Monat vergangen, und bis jetzt hatte ich noch keine der vier Lampen verkauft. Ein paar Anfragen hatte ich erhalten, aber alle waren von typischen Abzockern gewesen, die mir bloss einen Bruchteil dessen boten, was ich für meine Ware verlangte.
Ich sass am Laptop und passte den Text der Inserate an, als meine Tochter zu mir ins Wohnzimmer trat. Sie schaute zu mir hoch, knapp über den Tischrand hinweg, und blickte gebannt auf den Bildschirm.
«Sind noch alle da, Mama?»
«Ja.»
«Geht es dir nicht gut, Mama?»
«Doch, doch… alles in Ordnung.»
«Müssen wir heute wieder einkaufen gehen?»
«Es scheint so, meine Liebe, es scheint so.»
«Und was machst du mit den anderen Dingen?»
«Abwarten und hoffen.»
«Wann kann ich wieder richtig in meinem Zimmer spielen?»
«So, wie’s aussieht, wird das vermutlich noch ein Weilchen dauern.»
Bis jetzt war der Januar kein guter Monat gewesen. Ich hatte im Dezember die falschen Dinge geklaut, oder die Leute hatten eben, wie vermutet, nach Weihnachten und Neujahr kein Geld mehr, um meine Ware zu kaufen.
«Kann dir Papa kein Geld geben?»
«Ach, Schatz! Papa gibt mir ja Geld, so ist es nicht. Aber das Geld, was er mir jeden Monat gibt, ist nicht mein Geld. Das Geld ist nur für dich vorgesehen, meine Kleine, das darf ich nie vergessen.»
«Und warum tust du nicht das Auto ins Internet? Wir können mit dem Bus einkaufen gehen. Ich fahre gerne Bus!»
«Weil das Auto nicht mir gehört, deshalb.»
«Aber die anderen Sachen gehören doch auch nicht dir.»
«Jetzt schon. Und das ist was ganz anderes.»
«Aber…»
«Bitte gib mir kurz Zeit, ich muss das noch fertig machen.»
Meine Tochter wollte es nicht verstehen.
Ich sah mir die Inserate der Lampen nochmals an. Was soll’s?, dachte ich. Ich kannte mich mit Lampen nicht aus. Zwei davon waren aber auf ihre eigene Art noch recht hübsch. Ich erhöhte die Preise – ich verfünffachte sie –, und gleichzeitig senkte ich die Preise der beiden anderen um einen geringen Betrag, so weit aber, dass es psychologisch gesehen einen Effekt hatte. Bei den teuren beiden schrieb ich zudem jeweils in den Titel: «exklusive Designer-Lampe», und ich ergänzte den Text mit der Beschreibung «Einzelanfertigung».
Ich klappte den Laptop zu und liess mir ein heisses Bad ein.
«Geh nach draussen in den Schnee. Aber sei nicht zu lange weg. Am Nachmittag gehen wir in die Stadt.»
Ich half meiner Tochter in die Winterkleidung und in die Stiefel, dann zog ich mich aus und genoss die Wärme und die Einsamkeit.
Guten tag,
ich interessiere mich für ihre beiden designer lampen. Dürfte ich sie mir mal anschauen kommen? Lieber gruess, coni
Hoi Coni
Kommen Sie doch einfach mal heute oder morgen vorbei… Sie können mir mir eine Stunde, bevor sie hier sind eine sms schreiben.
Ich bin dann zu Hause.
Herzliche Grüsse
Monika.
Ok passt. Bis dann! Coni
Ich legte das Handy beiseite. Meine Tochter war heute bei ihrem Vater zu Besuch. Das waren für mich die schlimmsten Tage, weil ich dann Zeit hatte, mir in aller Ruhe die neuen Stelleninserate anzuschauen, die meinen Posteingang nun schon seit geraumer Zeit von Woche zu Woche immer wieder von Neuem überfluteten. Wenn es bloss so viele Kaufanfragen gegeben hätte, wie ich täglich neue Stellen auf dem Arbeitsmarkt in meinem Posteingang wiedergefunden hatte, dann wäre mein Problem gelöst und all meine Sorgen wären längst überm Berg gewesen.
Die meisten Jobs erschienen mir lächerlich (wie kann das jemand den ganzen Tag lang machen?), viel zu weit von zu Hause entfernt oder einfach nur gänzlich unpassend. Die Arbeitslosenkasse zahlte mir schon seit ein paar Monaten nichts mehr aus; Sozialhilfe würde ich nie im Leben beantragen, obwohl ich wusste, dass ich es jetzt hätte können; der Verkauf gestohlener Ware hielt mich grad so über Wasser und zahlte wenigstens die Rechnungen für die Wohnung, den Parkplatz in der Tiefgarage und das geleaste Auto samt Versicherung. Aufgrund der hohen Strafkosten, die ich dem Händler bei einer vorzeitigen Kündigung zu bezahlen hätte, konnte ich den Leasingvertrag zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich auflösen. Ausserdem brauchte ich das Auto, um mit meiner Tochter die «Einkäufe» erledigen zu können. Und was würden bloss die Nachbarn von mir denken, wenn plötzlich mein Porsche für immer aus der Tiefgarage verschwunden wäre? Tja, meine Nachbarn, die mich streng genommen gar nicht kannten und mich vielleicht, wenn’s hoch kommt, ab und an im Treppenhaus oder vor dem Lift grüssten, wenn sie mich zu Gesicht bekämen. Wäre es ihnen aufgefallen? Wussten Sie, dass der Porsche mir gehört?
In 1h, lg coni
Immerhin. Auf Coni war Verlass.
Er war ein junger Erwachsener mit etwas längerem Haar. Ich liess ihn eintreten.
«Die Designer-Lampen sind gleich hier in diesem Zimmer. Es sind, wie gesagt, Einzelanfertigungen. Seien Sie also bitte vorsichtig! Ich habe auch noch andere Gegenstände, falls Sie inter…»
«Danke, ich komme nur wegen der Lampen.»
«Ja… hier… bitte schön, da sind sie auch schon!»
Coni – der Spitzname für «Conrad», vermutete ich, was ja für einen jungen Herrn wie diesem hier in löchrigen Jeans und einem Kapuzenpullover wirklich viel zu altmodisch geklungen hätte – Coni zog ein Stück zusammengefaltetes Papier aus seiner Hosentasche. Es war eine Checkliste oder etwas in der Art, deren Inhalt er sich jetzt zu vergegenwärtigen versuchte. Danach betrachtete er die beiden Lampen.
«Wissen Sie…», setzte er an.
«Du kannst mir gerne Monika sagen.»
«Ja… Monika… Mein Vater hat in der Stadt ein kleines Lampengeschäft. Seit Kurzem fehlen vier Lampen in seinem Sortiment. …
Dies ist das Ende des ersten Teils.
Hier gelangen Sie zum zweiten Teil.
mf.