Die vier Lampen – Teil 2

Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Januar–Februar 2021. Dies ist der zweite Teil. Lesen Sie den ersten Teil hier.

Ja… Monika… Mein Vater hat in der Stadt ein kleines Lampengeschäft. Seit Kurzem fehlen vier Lampen in seinem Sortiment. Es waren allerdings keine Einzelanfertigungen, so wie diese hier – sie waren aber trotzdem nicht gerade billig. Er versucht sie jetzt durch andere zu ersetzen, durch ähnliche. Er hat sie mir beschrieben, und ich solle für ihn das Internet durchkämmen nach günstigen gebrauchten Lampen, die seinen fehlenden ähnlich sehen. Diese zwei hier könnten wirklich passen.»

«Gut, gut…»

Coni betrachtete die zwei Lampen ziemlich genau. Immer wieder schaute er auf seine Liste, dann setzte er erneut einen Haken oder ein Kreuz an die Stelle, bei dem Kriterium, das eine der beiden Lampen erfüllte.

Sie standen etwas unten in einem Regal. Er hatte die ganze Zeit eine gebückte Haltung eingenommen. Als er mit der Liste durch war, stand er auf. Ich wurde langsam nervös. Ich wollte verhindern, dass er auch die beiden anderen Lampen entdeckte, also sagte ich schnell, bevor er sich im Kinderzimmer weiter umsehen konnte:

«Wollen Sie… willst du die Lampen vielleicht noch bei besserem Licht betrachten? Wir können sie kurz in die Küche nehmen, wo keine Regale vor den Fenstern stehen und das Licht um diese Zeit heller und besser ist. Ja?»

Er zuckte mit den Schultern. «Okay, warum auch nicht. Eigentlich bin ich mir schon ziemlich sicher, dass es die richtigen sind. Aber kann ja nicht schaden.»

«Geh schon mal vor, die Küche ist gleich links. Ich komme nach.»

Wir standen in der Küche, die beiden Lampen vor uns auf dem Tisch, wo sie vom Licht, das durch die Fenster kam, gut beleuchtet wurden.

Coni nickte. «Okay.»

«Okay? Ja, willst du sie nehmen?»

«Ein paar letzte Fragen noch», sagte er.

«Ja, bitte, nur zu, schiess los!»

«Sie sehen zwei der Lampen, die mein Vater ersetzen möchte, täuschend ähnlich.»

«Ja?…»

«Ich kann das natürlich nicht abschliessend beurteilen, ich habe sie nie gesehen und habe auch kein Foto von ihnen. Mein Vater gab mir bloss diese Liste hier mit. Aber soweit ich es beurteilen kann, müssten das fast gleiche Kopien der entschwundenen sein. Ich mache das nicht zum ersten Mal.»

Er grinste stolz.

Ich merkte, wie mein Mund trocken wurde und ich einmal leer schlucken musste, bevor ich auf seine Bemerkung Stellung nehmen konnte.

«Das ist doch gut!», sagte ich. «Hervorragend, dann hast du ja wohl für deinen Vater einen perfekten Ersatz gefunden, und das noch auf einen Schlag für die Hälfte der Lampen… also… es waren doch insgesamt vier, hattest du gesagt, nicht wahr?»

«Ja, genau, vier.»

Er schwieg.

«Nun meine Frage: Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich habe vorhin im Zimmer gesehen…»

Oh nein! Er hat die anderen beiden Lampen doch entdeckt!

«…dass du auch noch weitere Sachen verkaufst. Also, ich meine, nicht nur Lampen. Sachen unterschiedlicher Kategorien halt.»

«Ja?…»

«Verstehst du – wie soll ich sagen, ohne dabei unhöflich zu sein?…»

Er suchte nach Worten.

«Mein Vater verkauft nichts als Lampen. Er kennt sich in dem Geschäft bestens aus. Ich nicht so wie er, aber auch ich habe im Laufe der Jahre das eine oder andere von ihm gelernt, unweigerlich. Schliesslich bin ich mit diesem Geschäft aufgewachsen. Nun ja, was ich sagen wollte…»

Jetzt kommt’s, er hat mich als Diebin entlarvt! Ich musste meine Atmung kontrollieren. Der Schweiss auf meinem Brustbein hatte schon eingesetzt.

«…das scheinen wirklich exakt dieselben Lampen zu sein, die uns gestohlen wurden.»

Er zeigte auf die Lampen und schaute mich von der Seite an. Dann lachte er verunsichert.

«Bist du dir ganz sicher, dass es Einzelanfertigungen sind, die du da verkaufst? Ich müsste mich schwer täuschen, aber die scheinen wirklich dieselben Modelle zu sein.»

Natürlich war das gelogen. Ich hatte keine Ahnung. Was sollte ich sagen? Am besten mit der Wahrheit rausrücken, dachte ich.

«Ich habe sie … ähm … ich habe sie erworben, und man sagte mir, es seien Einzelstücke. Ich habe aber nie den Platz in der Wohnung gefunden, deshalb verkaufe ich sie jetzt. Wenn es so ist, wie du sagst, dann hat man mich wohl reingelegt.»

Die Wahrheit kann warten.

«Das denke ich auch. Es hätte mich auch verwundert, wenn es anders gewesen wäre. Für eine Einzelanfertigung und zwei Lampen in solch gutem Zustand wären die Preise auch viel zu niedrig angesetzt gewesen. Unter diesen Umständen finde ich die Preise angebracht.»

Ich atmete auf.

«Eine letzte Frage noch, wenn ich darf.»

«Natürlich.»

«Dürfte ich die Lampen mal einstecken, um zu schauen, ob sie denn noch funktionieren? Hätte ich vielleicht ganz zu Beginn schon fragen sollen, aber ich ging aus irgendeinem Grund nicht davon aus… Wir verkaufen in unserem Laden selbstverständlich nur funktionstüchtige Ware.»

«Ja, gerne, nur zu! Hier ist eine Steckdose», sagte ich ohne zu überlegen. Ich hatte die Lampen gar nie getestet.

Wir steckten die erste Lampe ein. Sie gab Licht. Dann die zweite.

«Das könnte auf einen Wackelkontakt hindeuten», sagte Coni, «oder die Glühbirne ist kaputt. Hast du in deiner Wohnung eine Ersatzbirne?»

«Nicht, dass ich wüsste. Kannst du die beiden Birnen nicht einfach vertauschen? Die erste hat ja funktioniert.»

«Nein, das geht leider nicht, die Lampen haben nicht dieselbe Fassung. Hm.»

So genau hatte ich sie mir nicht angeschaut gehabt, als ich sie ins Internet stellte. Coni überlegte.

«Anfängerfehler», sagte er zu sich selbst. «Ich hätte vor dem Herkommen nach den Fassungen fragen sollen und hätte selber Birnen aus dem Laden mitbringen sollen. Aber irgendwie ging ich davon aus… warum auch immer… Es ist nicht dieselbe Situation wie sonst.»

«Nun, was machen wir jetzt?»

«Ich weiss nicht.»

«Wenn du kurz Zeit hast, dann könnten wir eine neue Birne kaufen gehen. Ich habe ein Auto. Es ginge ganz schnell.»


Wir waren zurück. Während der Fahrt hatte ich kaum ein Wort gesprochen, doch Coni redete plötzlich wie ein Wasserfall. Er hatte anscheinend erst kürzlich im Sommer vergangenen Jahres die Matura bestanden und wartete jetzt darauf, im Herbst dieses Jahres ein Studium zu beginnen. Welches? Das wusste er noch nicht. Er liess sich Zeit, wie er sagte; er wolle keine falsche Entscheidung treffen. In der Zwischenzeit arbeitete er bei seinem Vater im Geschäft und half mit, wo er nur konnte. Ins Militär musste er nicht, da er irgendeinen Defekt hatte. Bei seinen Ausführungen darüber hatte ich allerdings nicht mehr so richtig zugehört.

Er knipste die Lampe an. «Nun ja», sagte er. «Da kann ich leider nichts machen. Eine kaputte Lampe darf ich nicht kaufen, oder ansonsten nur für einen weitaus geringeren Preis.»

Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob sie ihre Ware eigentlich nicht prüfen, bevor sie sie den Kunden teuer verkaufen. Aber ich verkniff mir den Kommentar aus Selbstschutz.

Er sagte: «Sie würde jedoch wirklich gut passen, also muss ich sie fast kaufen, und mein Vater oder ich reparieren sie dann.»

«Gut», sagte ich, «damit bin ich einverstanden. Wie viel wärst du bereit, zu zahlen?»

«Zwanzig Prozent.»

«Zwanzig Prozent des Verkaufspreises?!»

«Ja.»

Ich tat so, als müsste ich zuerst abwägen. Das war für mich keine Frage. Schliesslich war der Preis, den Coni mir bot, auch mein ursprünglicher Preis gewesen, bevor ich ihn aus einer Laune heraus erhöht hatte.

«Gut», sagte ich, «abgemacht.»


«Soll ich dich zurück in die Stadt fahren?»

«Geht schon, danke.»

«Möchtest du noch für einen Kaffee hierbleiben?»

«Nein, danke.»

«Es ist ein exklusiver, vorzüglicher Kaffee.»

«Kaffee ist mir zu stark. Davon krieg ich Kopfschmerzen und Pickel.»

«Wie wär’s mit einem Sandwich?»

«Danke.» Er schüttelte den Kopf.

«Verstehe. Wegen des Kaffees könnten wir mit dem Porsche nochmals…»

«Ist nicht nötig, danke. Ich muss wirklich los.»

«Alles klar. Hat mich gefreut.»

Coni grinste verlegen, als er sich mit der vollen Tasche in der Hand umdrehte und den Lift betrat.

Was tue ich heute?, fragte ich mich. Der zugeklappte Laptop lag auf dem Tisch und starrte mich hämisch an. Mit dem Geld konnte ich jetzt wenigstens schon den Parkplatz und einen Teil der Leasinggebühren bezahlen.

Ich bewarb mich bei einem kleinen Geschäft, das gerade dabei war, einen Onlineshop aufzubauen, und das dafür Hilfe benötigte. Nebst technischer Betreuung, die ich mir zumutete, bestünde die Aufgabe darin, alle Artikel zu fotografieren und die Fotos anschliessend zu bearbeiten, Texte für die Artikel zu schreiben, die Daten einzutippen und einen Teil des Kundensupports zu übernehmen. Die Stelle war allerdings nur befristet. Auch Marketingaufgaben waren dabei. Im Lügen war ich spitze.

Als ich meine Tochter am Abend bei ihrem Vater zu Hause abholte, erzählte ich ihr von meinem heutigen Tag und von Coni. Sie war sichtlich enttäuscht, als sie hörte, dass ich zwei der Lampen verkaufen konnte. Dabei hatte ich mich doch so sehr darüber gefreut, es ihr endlich erzählen zu können!

Ich war so euphorisch gewesen, dass ich sie während der ganzen Zeit nicht gefragt hatte, wie denn ihr Tag gewesen sei. Als wir ins Auto eingestiegen waren, begann sie in ihrer üblichen Manier, draufloszuplappern und mit ihren Gedanken hin und her zu springen, dass man teilweise richtig Mühe hatte, ihrem Erlebnisbericht zu folgen. Und ich hatte nicht hingehört, sondern sie auf der Stelle unterbrochen.

«Schau!», sagte ich zu ihr, als wir zu Hause in der Wohnung angekommen waren. Ich nahm sie mit in ihr Zimmer, wo ich meine Ware zwischenlagerte. «Siehst du? Die anderen beiden sind ja noch da. Du kannst jetzt also aufhören, zu quengeln.»

«Ich will aber vier! Ich will alle haben, alle!… Alle! Alle! Alle!…»

Es war nichts zu machen. Ich schenkte mir in der Küche ein Glas Rotwein ein, zog die Hausschuhe aus und setzte mich mit dem zu zwei Dritteln gefüllten Glas aufs Sofa. Meine Tochter liess ich in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer schreien. Es würde genau zwanzig Minuten dauern, bis sie ihren eigenen Frust überstanden und sich wieder beruhigt hätte.

Mein vater hat freude. Er sagt es sind zufälligerweise genau die selben. Coni

Ich warf das Handy aufs Sofa. Meine Tochter hatte soeben ihre Murmelbahn umgeworfen und in einem Wutanfall zerstört.

«Wir können sie nicht wieder klauen gehen, Schatz!», schrie ich durch die Wohnung. «Der Junge des Ladenbesitzers kennt mich jetzt! Er könnte per Zufall dort sein und mich sehen! Es wäre viel zu auffällig, wenn dann genau dieselben Lampen wieder fehlen würden! Verstehst du das denn nicht?!»

Meine Tochter weinte, jetzt aber leiser als noch eben zuvor. Sie hatte sich im Bett zwischen ihren zwanzig Kissen und den geschätzt hundert Plüschtieren vergraben.

Hoi Coni,
das freut mich. Meine Tochter hätte sie gerne behalten aber jetzt gehören sie dir und deinem Vater. 🙂
Ganz liebe Grüsse, Mon.

Das hätte ich vielleicht nicht schreiben dürfen.


«Eine heisse Schokolade für meine Tochter bitte, und ich nehme einen Rumpunsch.»

«Sehr gerne, kommt sofort!»

Wir sassen diesmal nicht in der Nähe des Ausgangs, wo man ständig den kalten Luftzug spürt, wenn ein neuer Gast eintritt, sondern direkt am Tresen der Bar.

«Da hast du’s», sagte ich zu meiner Tochter, die auf dem hohen Barhocker neben mir sass und sich mit den Händen am Tresen festklammerte, um nicht hinunterzufallen. Sie wartete auf ihren Kakao. Ab und an blickte sie verstohlen zu mir hoch. Ich hatte die Tüte zwischen unseren Barhockern deponiert.

Die Barkeeperin stellte die Getränke vor uns hin. «Zum Wohl euch beiden!»

«Ich würde gerne gleich bezahlen, wenn’s recht ist.»

«Sehr gern. Das macht dann …»

«Ist gut so.»

«Vielen Dank!»

Sie kassierte das Geld ein, ohne die Münzen zu zählen.

In der Bar war es ruhig, nur wenige Menschen waren zugegen, ab und an kam ein neuer Gast zur Tür herein. Ein Mann sass in der Nähe des Ausgangs. Er war schon da gewesen, als wir eintraten und uns an die Bar setzten. Immer wieder blickte er zu uns rüber; ich sah ihn im grossen Spiegel, der hinter den Whiskyflaschen angebracht war. Dann schaute er wieder verlegen in sein Smartphone.

Als unsere Tassen leer waren, stand ich auf und nahm die Tüte in die Hand. Ich drehte mich um; der Mann war verschwunden.

«Ach, übrigens», sagte ich der Barkeeperin und stellte die Tüte auf dem Barhocker ab. «Sollten Sie jemals einen Onlineshop brauchen und nicht wissen, womit Sie überhaupt beginnen sollen: hier ist meine Karte. Ich geb Ihnen gleich zwanzig Stück davon. Und gerne weitersagen. Ich bin auch auf Insta.»

Ich griff nach der Tüte und nahm meine Tochter an die freie Hand. Wir verliessen das Lokal und nahmen den Bus zum Bahnhof.


mf.

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