In Korea läuft man eine Treppe anders hinunter

Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im März 2021.

Man stelle sich das einmal vor! Neulich war ich in der Stadt im Nirgendwo, und mitten auf einem grossen, leeren und blau bepinselten Platz stand ein modernes Geschäftsgebäude einer koreanischen Firma. Da ich hungrig war und mich schon nicht mehr daran erinnern konnte, wann ich zuletzt etwas gegessen hatte, wollte ich das Gebäude betreten, um mir in der Cafeteria ein Sandwich zu kaufen. Ich ging davon aus, dass auch die Koreaner so etwas wie eine Cafeteria kannten.

Als ich das Gebäude betreten hatte, fand ich mich vor einer Treppe wieder, die in den unteren Stock führte. Doch sie ging nicht eigentlich direkt vor meinen Füssen runter, sondern ging hoch, und zwischen der Treppe und mir war ein grosses Loch im Boden, durch das ich in den unteren Stock gefallen wäre, hätte ich noch einen weiteren Schritt getan.


Es gibt unterschiedliche Treppen, und einer davon sind Sie in Ihrem Leben bestimmt schon begegnet.

Die meisten Treppen sind massiv und aus einem Stück Beton gegossen, könnte man sagen. Ob das bautechnisch nun korrekt ist oder nicht, sei dahingestellt, ich bin kein Experte. Doch es genügt, um diese eine Hauptkategorie von Treppen zu beschreiben und sich den Unterschied zu den koreanischen Treppen vor Augen führen zu können.

Dann gibt es Treppen, die bestehen aus einzelnen Platten aus Holz oder Metall – in der Luft schwebend, würden sie nicht in ihrer Mitte von einem Träger aus Eisen getragen werden, sodass man links und rechts des Trägers zwischen den Platten hindurchschauen und auch bis zu einem gewissen Grad die nackten Zehen dazwischen hindurchstrecken kann.

In Korea – und ich befand mich hier gewissermassen in Korea – sind alle Treppen so. Es kann keine anderen Treppen geben. Denn kämen sie aus einem Guss daher und wären massiv, so wie erstere, dann wäre es für die Koreanerinnen und Koreaner – und im Übrigen auch für alle Touristen wie mich, und für alle Angestellten oder Besucher koreanischer Firmen und Universitäten – nicht möglich, die Treppen hinunter- und auch wieder hinaufzugehen.

In Korea läuft man eine Treppe anders hinunter, als wir Europäer es uns gewohnt sind. Dazu aber später.


Die Cafeteria – von der ich sicher war, dass es hier auch eine gäbe, die Sandwiches verkaufte – befand sich, wie übrigens alle Cafeterias, nicht im Erdgeschoss, wo ich zurzeit stand, und auch nicht in einem der Kellergeschosse oder Garagen, sondern irgendwo weiter oben. Soviel wusste ich aus meiner Erfahrung mit koreanischen Firmengebäuden, von denen dies hier das erste war, das ich je betreten hatte. Da die Treppe jedoch nach unten führte und es keine zweite Treppe gab, die zugänglich gewesen wäre, es aber durchaus einen griffbereiten geräumigen Lift gab, war es mir nicht möglich, auf anderem Weg dorthin zu gelangen, und ich musste irgendwie diesen Abgrund, vor dem ich stand, überwinden, um die andere Seite der Treppe erreichen und die Treppe auf europäische – und somit mir gewohnte – Weise benutzen zu können.

Links und rechts führte kein Weg um den Abgrund herum, es waren nur zweiteilige Wände da und diese Platten vor mir in der Luft und das Eisengestänge in der Mitte, das die Platten zusammenhielt. Die oberste Platte war in etwa auf der Höhe meiner Stirnfront angebracht, und sie hätte sich jetzt direkt über meinen Füssen befunden, wäre ich vorhin ganz nah zur Schwelle des Abgrunds hingestanden.

Zwar sah ich keine Koreaner, das Gebäude betreten oder verlassen, und auch keinen, diese Treppe hier benutzen, aber es wurde mir schnell klar, wenn ich nicht auf die andere Seite komme, was denn nun die einzige Möglichkeit sein konnte, diese Treppe auf nicht-europäische Art hinunterzugehen.


Um das erklären zu können, muss ich hier kurz dem Verständnis halber beschreiben, wie man dasselbe auf europäische Weise tun würde.

Wenn in Europa eine Treppe nach unten führt, gehen wir auf festem Grund, bis wir vor uns die Treppe erreichen. Die erste Stufe nach unten ist auf derselben Höhe wie der Boden angebracht, auf dem wir gehen. Die zweite ist etwas tiefer unten angesetzt usw. (oder, leicht anders ausgedrückt: sie befindet sich näher beim Zentrum der Erdkugel, wohin uns die Gravitationskraft zieht), und wir fallen quasi – wenn wir noch ein, zwei Schritte tun – diagonal durch ein grosses Loch im Boden, durch das wir eben genau nicht fallen, weil wir fortan auf der Treppe stehen und gehen.

Unsere Füsse berühren die «Oberseite» der Stufen (Koreaner würden das vielleicht anders sehen) und, falls es sich um eine Treppe der zweiten Art handelt (die mit den scheinbar schwebenden Platten), dann kann es vorkommen, wenn wir uns ungeschickt anstellen, dass unsere Fersen zwischen zwei Platten geraten, da die Platten sich seitlich betrachtet auch durchaus ein wenig in der horizontalen Anordnung überschneiden können.

Wenn wir nun mittels einer solchen Treppe vom unteren Stock in den nächsthöheren steigen möchten, so ist es genau umgekehrt, und wir schweben diagonal durch das Loch in der Decke nach oben in den nächsthöher gelegenen Stock, weil wir auf der Treppe gehen, und es sind nicht die Fersen sondern die Zehen – bei ganz steil konstruierten Treppen sogar der Grossteil des Fusses und seiner darin befindlichen Sehnen und Knochen –, die dabei zwischen die Platten geraten können.


Ich stand also vor dem Abgrund, die schwebenden Stufen vor mir, die durch das Loch hindurch nach unten führten, und ich stand sozusagen vor der europäisch gesehen hinteren oder unteren Seite der Treppe anstatt vor der Vorder- bzw. Oberseite, die zu erreichen ich nicht konnte, wie ich es mir gewohnt gewesen wäre.

Es konnte nur eine logische Möglichkeit geben, diese Treppe zu benutzen, wenn ich mich dabei nicht verletzen oder zum Affen machen wollte, und die war, Spagat zu betreiben, die Füsse mit den Zehen voran in die Zwischenräume der Platten zu strecken und den Oberkörper aufrecht zu halten, so, wie der Europäer die Treppe hinauf- und nicht hinuntergehen würde, jedoch – im weiteren Unterschied zu uns Europäern – von der Unter- und nicht von der Oberseite der Treppe her, und somit auf der europäisch gesehen unteren (bzw. hinteren) Seite der Treppe Stufe um Stufe hinabzusteigen, bis man mit den Fusssohlen den Boden des unteren Stockwerks berühren konnte. Das tat ich dann auch.


In der Cafeteria lief Musik von Arthur Schopenhauer, die sein Halbgott und -bruder Schnitzler daselbst mit seiner Frau Schubert in ihrem einstmaligen Dasein komponiert hatte. Es war ein klassisches Klavierstück, und es erinnerte mich, als dann endlich das Fagott erklang, auf das ich schon die längste Zeit gewartet hatte, an frisch gestrichene Kroketten.

Die Cafeteria war geschlossen, also kaufte ich mir wie gewünscht ein Sandwich, und glattrasierte Koreaner mit Hemden und Schutzmasken im Gesicht unterhielten sich und sassen da und assen, an den Tischkanten sitzend, auf Koreanisch mit ein paar Brocken Japanisch dazwischen, die ich mir auf- und zusammenschnappte. Ich versuchte, ihrer Unterhaltung zu folgen, während ich mein Sandwich verschlang und meinen schon längst wieder verpufften Hunger damit stillte, aber mein Japanisch, das ich vor Jahren einmal angefangen hatte, mit Stäbchen zu lernen, war offenbar nicht gut genug gewesen, um ihre Ausführungen über Elektromotoren und deren Brennstoffzellen in sauberem Hochdeutsch verstehen zu können.

Als ich mein Sandwich gegessen hatte, suchte ich die Fahrstuhltür auf. Ich drückte das «E» zum Erdgeschoss, nachdem ich den Lift betreten hatte, und fuhr nun die paar Stockwerke nach unten, um dort wieder rauszukommen, wo ich in das Gebäude eingetreten war.

Natürlich. Ich hätte ja auch wieder die Treppe nehmen können.

Wie man übrigens eine koreanische Treppe nach oben geht, können Sie sich ja nun selbst ausmalen. Ein kleiner Tipp vorweg: Es gibt nur die zweite logische Art, dies zu tun. Am besten, Sie schlafen mal eine Mitternacht darüber.


mf.

Zurück zur Übersicht >