2.
Denke ich an meine Kindheit zurück, so denke ich unweigerlich an meine Mutter. Ich würde sie als eine starke Frau bezeichnen, fantasievoll und abenteuerlustig bis in die Knochen – doch ich erinnere mich genau an einen Abend, als ich sie zum ersten Mal in einem seltsamen Zustand angetroffen habe.
Golden funkelte das Licht der Abendsonne durch die gelben Blätter der Kastanienbäume, die den schmalen, langen Pfad von der Schule nach Hause säumten. Wie immer ging ich diesen Weg allein. Wir wohnten zu zweit und vom Dorf etwas abgelegen auf einem kleinen Hof, den meine Mutter ausschließlich für unseren Eigenbedarf bewirtschaftete. Es war früh im Herbst, und das Schuljahr hatte vor nicht allzu langer Zeit erst wieder begonnen.
Nach Unterrichtsschluss hatte sich etwas Besonderes zugetragen, wovon ich meiner Mutter unbedingt berichten wollte. Ich war deshalb spät dran und in Eile.
Ich stampfte über die Blätter, die am Boden lagen, hörte sie rascheln und den Kies unter meinen Schritten knirschen, und ich genoss jeden Atemzug, genoss jeden warmen Sonnenstrahl, der sich auf mein zartes, kindliches Gesicht legte, als ich, so gut ich konnte, den Hügel hinaufrannte.
»Mama! Mama!«, rief ich ungeduldig und außer Atem, kaum hatte ich die Haustür aufgestoßen. Es war düster im Eingangsbereich. Als ich meine Mutter von nirgendwo antworten hörte, ging ich sie draußen bei den Hühnern suchen. Und als ich sie auch dort nicht fand, suchte ich sie bei den Hasen, dann bei der Kuh.
Ich kraulte den Hund, der ruhig auf der Wiese döste, am Hals, und zum Dank leckte er mir mit seiner sanften Zunge die Hand sauber.
»Mama!«, rief ich noch einmal in die Welt hinaus, die hier oben nur aus Wiesen und Bäumen, aus Himmel und Wolken bestand. Es wurde schon langsam dunkel, und ein leichter Wind kam auf. Ich näherte mich dem Haus von hinten, von wo eine blutrote Tür direkt in die Küche führte. Vorsichtig stieß ich diese auf.
»Mama? …«, fragte ich zögerlich und leise in den schummrigen Raum hinein. Alle Fensterläden waren geschlossen, bis auf einen. Ein kleines Fenster am andern Ende der langen Küche stand sperrangelweit offen, und durch dieses Fenster strömte der Wind herein und mit ihm das restliche Licht der untergehenden Sonne. Staub flimmerte mir vor den Augen und kitzelte mich in der Nase, als hätte man dieses Zimmer schon seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt.
Ich betrat die Küche und machte die Tür hinter mir zu. Das Einrasten der Türklinke klang in dieser Stille wie ein eiserner Hammerschlag. Ich blieb stehen.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die düsteren Lichtverhältnisse. Jetzt erkannte ich eine Gestalt. Sie saß, mit dem Rücken mir zugewandt, auf einem der hölzernen Stühle am großen, leeren Küchentisch, leicht nach vorn gebeugt, und von hinten sah es so aus, als hingen ihre langen, ungepflegten Haare von allen Seiten ihres Kopfes herunter und berührten den Tisch.
»Mama«, sagte ich. Doch meine Mutter reagierte nicht.
Meine Hände wurden feucht. In meiner Brust spürte ich eine Enge, und ich fühlte mein Herz gegen die Rippen schlagen, schneller und immer schneller, während meine Beine zuerst surrten und schließlich zu zittern begannen. Ich musste einmal leer schlucken und so tief es mir gelang Luft holen, um meine rasenden Gedanken einzufangen.
Sie ist tot, dachte ich. Nun ist also der Moment gekommen, den ich schon oft gefürchtet hatte. Immer hatte ich mir vorgestellt, ich käme eines Tages von der Schule nach Hause und meine Mutter sei nicht da, sei kurz mit dem Fahrrad ins Dorf einkaufen gegangen, wie üblich in hohem Tempo die steile Straße hinuntersausend, und ich sah sie in meinen Gedanken in der scharfen Kurve am Boden liegen, ein Teich aus Blut um ihren Kopf, die Haare nass und die weiße Bluse rot, der graue Mercedes daneben aber praktisch unversehrt, der junge Fahrer blass im Gesicht wie ein alter Mann, auf den Knien, mit den Händen in ihrem Blut und am Kopf meiner Mutter, und um beide herum ein großer Kreis von Schaulustigen …
Manchmal hatte ich beim Nachhausespazieren auch die Befürchtung, meine Mutter könnte beim Kirschenpflücken von der Leiter gefallen sein und sich schwer verletzt haben, und ich stellte mir vor, wie sie in der Wiese lag – der Korb, den sie an ihren Bauch gegurtet hatte, ausgeleert; die dunkelroten Kirschen überall auf ihrem Körper und im Gras verteilt; der Hund an ihrer Seite ihr bleiches, starres Gesicht leckend, ihre Nase, ihre blauen toten Lippen, ihre großen grünen Augen.
Dass ich sie jedoch in der Küche vorfinden würde, einfach so am Küchentisch sitzend – ruhig, still, beinah friedlich gestorben –, das hätte ich nie für möglich gehalten, das konnte sich meine kindliche Fantasie nicht ausmalen.
»Eines Tages wirst du ganz alleine sein«, hatte sie mir einst gesagt. »Vielleicht kannst du mich dann verstehen.«
Ihre Worte stiegen beklemmend aus meiner Erinnerung auf.
»Ach! Wenn es mir doch bloß möglich wäre, dich loszulassen …«
Ich muss gestehen: Als ich sie so sah, einsam eingeschlafen an diesem Tisch, da war ich zwar erschrocken – traurig aber fühlte ich mich nicht. Ich hatte Angst davor, was kommen würde, und konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter von nun an nicht mehr da sein würde.
Vorsichtig näherte ich mich ihr, und ich streckte meine linke Hand nach ihr aus. Doch ehe ich ihren Rücken spürte, machte ich ein, zwei Schritte nach rechts, um sie von der Seite zu betrachten. Ihr Gesäß berührte die Rückenlehne des Stuhls, ihr Oberkörper sah krumm und bucklig aus, die zerzausten Haare verdeckten ihr Gesicht.
Ich bückte mich, um sie unter diesem Vorhang hindurch sehen zu können. Sie hatte die Ellbogen weit auseinander auf das dunkle Holz gestemmt, hielt ihre Hände wie zum Beten gefaltet und ihr Kinn darauf abgestützt. Als ich ihre Haare mit der Hand etwas zur Seite schob, sah ich ihre blasse Stirn und die grünen, weit aufgerissenen Augen, die starr irgendwohin in die Ferne blickten.
Das kleine Fenster hing wie ein rot leuchtendes Gemälde an der Wand. Die letzten Strahlen kämpften sich am Horizont über die Hügel und brannten leise in den Augen meiner Mutter weiter.
Ich umarmte sie vorsichtig an ihrer Taille, so gut dies ging, und schmiegte meinen Kopf an ihre Rippen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie noch atmete, spürte das Auf und Ab ihres Brustkorbs bei jedem ihrer tiefen, aber kaum wahrnehmbaren Atemzüge.
Sie lebte! Meine Mutter war nicht tot, ja, sie war nicht tot, sie lebte!
»Mama!«, kreischte ich vor Aufregung, und mir kullerten Tränen über das Gesicht. Ich drückte sie, so fest ich nur konnte. Meine Mutter aber fühlte sich an wie eine schwere, kalte Statue aus Stein.
Die Sonne war jetzt untergegangen, und die Küche hatte sich in ein kühles Abendlicht gekleidet. Obschon ich meine Mutter bei mir wusste, fühlte ich zum ersten Mal diese Leere und Einsamkeit in mir auftauchen, von irgendwo ganz tief drin, doch ich konnte sie noch nicht richtig deuten.
Für einen kurzen Moment erwachte sie aus ihrer Starre und stieß mich mit einer heftigen Armbewegung von sich ab. Ich landete mit dem Hintern auf dem Boden und begann zu weinen.
Als ich wieder aufgestanden war und mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, schaute ich mich um. Obwohl ich meine Mutter deutlich vor mir sitzen sah, kam es mir vor, als sei niemand hier. Ich fror am ganzen Körper.