Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Januar–Februar 2021.
In ihren kühnsten Träumen war sie nicht Lorena DiNardi, Leiterin des Einkaufs mit Doktortitel bei einem der grössten Schweizer Online-Händler, verheiratet, Mutter von zwei gesunden Kindern und Besitzerin einer schrägen und mittlerweile wertvollen Sammlung von Videospielen und Spielkonsolen aller Art – sondern sie war einfach nur Lorena DiNardi, einfach so, und ohne Drum und Dran.
Sie liebte ihre Arbeit, das war es nicht, und auch liebte sie ihren Mann und ihre Kinder, die Tochter und den Sohn; sie liebte das Haus, das sie besass und das ihr in der Freizeit den grössten Komfort bot, den sie sich nur wünschen konnte. Und nicht zuletzt war sie stolz auf ihre Sammlung, die jedes Jahr um ein paar Dutzend unausgepackter und ungespielter Spiele grösser wurde. Was sie nicht liebte aber, das war diese elende letzte Stunde, bevor am frühen Morgen um fünf Uhr dreissig neben ihrem Ohr der Wecker klingelte.
Kaum eine Nacht verging – auch am Wochenende –, da sie nicht zu jener Stunde erwachte und sich als Erstes in der Dunkelheit fragen musste, wer sie war und wo sie sich befand. Nur der Türspalt stand ein wenig offen, und das Licht der Galerie setzte einen schmalen Streifen an der Decke, am Fussboden und an der Wand ab. Sie erinnerte sich an ihren Namen, Lorena DiNardi, das war für sie kein Kunststück. Und als sie ihren Mann neben sich laut schnaufen hörte, da wusste sie auch gleich, dass sie sich in einem Schlafzimmer befinden musste. Es dämmerte ihr, dass dies ihr gemeinsames Schlafzimmer sei; alles andere aber, das sonst so Wohlbekannte, wirkte ungreifbar und fern, und sie musste sich das Ganze erst wieder nach und nach in ihr Gedächtnis rufen und wie ein grosses Puzzle in ihren verworrenen Gedanken zusammensetzen.
Manchmal lag sie die ganze Stunde wach, und in ihrem Kopf löste sie Probleme. Nicht selten kam es dann vor, dass sie bald schon begriff, sie könne diese Probleme unmöglich lösen, solange sie noch im Bett lag, und jeder weitere Gedanke daran wäre nur verschwendete Zeit gewesen. Die Versuchung war gross, eine Stunde früher aufzustehen und ihren privaten oder geschäftlichen Laptop – je nachdem, welcher Natur ihr gerade zu lösendes Problem war – aufzuklappen. Doch meistens blieb sie hart und vernünftig, zuweilen aber auch einfach gelähmt in ihrem Bett liegen. Insgeheim wusste sie ja, dass sie den Schlaf wie kaum eine andere dringend brauchte.
Sie versuchte, wieder einzuschlafen, doch der Gedankenzirkus lärmte und hielt sie heut mit seinen cleveren Kunststücken auf Trab.
Sie besass alle Helfer und Apps, die man sich zur Organisation des eigenen Lebens und des Lebens anderer nur vorstellen konnte: einen geteilten digitalen Kalender, Erinnerungen, ein System aus To-do-Listen, ein E-Mail-Programm und Chats jedweder Art. Auf Organisationsboards behielt sie den Überblick; in Notizbüchern sicherte sie sich ihre Gedanken und Einfälle. Der Aktivitätstracker sorgte dafür, dass sie zu genügend Bewegung kam, und die Google-Alerts, dass sie nichts Wichtiges auf der Welt verpasste, was sie gerade so interessierte. Nicht zuletzt nahm ihr der Menüplaner das Problem der ausgewogenen Ernährung ab, die sie sich schon lange zum Ziel gesetzt hatte, und eine strenge Routine gab ihr vor, wann sie einzuschlafen und theoretisch wieder aufzuwachen hatte, um ihr am Tag die volle mentale Fitness zu gewährleisten, zu der sie imstande war.
Doch das alles befreite sie nicht von ihren Problemlöse-Attacken, die sie jeden Morgen um Punkt vier Uhr dreissig heimsuchten, aus dem Schlaf rissen und überfielen, obschon diese Technologien ihr den grossen Teil der lästigen täglichen Arbeit bereits mühelos abnahmen.
«Bist du schon wieder wach?», sagte ihr Mann mit dunkler und etwas verschleimter Stimme.
«Ja.»
Er drehte sich im Bett auf die andere Seite, denn das Mondlicht, das durch die nun offen stehende Tür sein Gesicht traf, blendete ihn.
«Ich mach die Tür wieder zu. Geh nur kurz auf die Toilette. Dann komm ich gleich wieder ins Bett.»
Ihr Mann sagte nichts. Vermutlich war er schon wieder eingeschlafen.
Um ihm mit der lauten Spülung nicht den Schlaf zu rauben, benutzte sie nicht das Badezimmer, das nur vom Elternschlafzimmer aus erreichbar war, sondern sie schlich sich leise die breite Treppe hinunter und betrat das Bad, das für Gäste vorgesehen war.
Sie machte das Licht an, klappte den Deckel hoch und setzte sich auf die kalte Schüssel. Der dünne, harte Strahl, der normalerweise von innen her laut die Schüssel treffen würde, blieb aus. Ein paar Tropfen Urin plätscherten angestrengt ins Wasser. Sie hatte am vergangenen Abend zu wenig getrunken und hätte besser auf ihre App hören sollen, die sie etwa um acht Uhr freundlich ermahnte, noch ein paar Gläser Wasser zu sich zu nehmen, wenn sie auf ihr tägliches Kontingent von zwei Litern kommen wolle, das sie übrigens selbst festgelegt hatte! Dann hat sie die Benachrichtigung einfach weggewischt und sich wieder ihrer Arbeit gewidmet.
Mit ein paar Blättern Toilettenpapier tupfte sie sich zwischen den Beinen trocken.
Sie stand auf und spülte, klappte den Deckel zu. Das Licht war grell und hatte sie noch wacher gemacht, als sie ohnehin schon gewesen war. Das nächste Mal wohl besser wieder ohne Licht, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Spiegelbild störte sie. Der Pickel am Kinn. Den musste sie ausdrücken. Er war ihr schon gestern Abend beim Zubettgehen aufgefallen. Jetzt aber war er über Nacht gross geworden und war entzündet und prall, war gefüllt mit weissem Eiter.
Blut und Eiter aufsaugen mit etwas Toilettenpapier, Spiegel sauber wischen, dazu ebenfalls Toilettenpapier benutzen mit ein paar Tropfen Wasser. Dann trocken wischen. Spiegel anhauchen; blank polieren mit Ärmel.
In Gedanken ging sie den kommenden Tag durch, der ihr bevorstand.
Erstes Meeting um acht Uhr dreissig. Michelle ist im Homeoffice. Nicht vergessen, sie remote dazuzuschalten.
Davor letzte Toilettenpause am Vormittag. Und Kaffee holen! Längeres Meeting.
Nicht zu lange aufhalten lassen, wenn ich jemanden bei der Kaffeemaschine antreffe. Besonders Niklas aus dem Weg gehen, sonst komm ich da am Morgen nicht mehr weg.
Davor Dashboard öffnen, Zahlen angucken, Präsi mit aktuellen Zahlen ergänzen. Hoffentlich klappt das mit dem Dashboard wieder; hoffentlich haben die Typen den Fehler schon gefixt. Finger kreuzen.
Dann, Präsi nochmals kurz durchlesen, ob alles stimmt. Wird schon stimmen. Das kommt gut, das wird sie umhauen! Davor E-Mails und Chatnachrichten lesen, wie immer aber nur das Wichtigste gleich beantworten. Seit gestern Abend wird wohl nichts Weltbewegendes mehr passiert sein.
Das Motto!, schoss es ihr jetzt durch den Kopf. Mir fehlt noch das Motto! Aber da wird mir schon noch was in den Sinn kommen, das weiss ich bestimmt. Kann ich mir ja während der Fahrt ausdenken …
Hoffentlich ist heute niemand krank. Besonders Basir darf nicht fehlen, hoffentlich ist der dabei. Ein Tag ohne Basir ist einfach nicht dasselbe! Aber warum sollte der krank sein? Gibt eigentlich keinen Grund, weshalb. Aber man kann ja nie wissen … und falls doch, wer kümmert sich dann um …? Na ja.
«Die Kinder sind versorgt», sagte sie leise vor sich hin. «Plüffi», so nannte sie scherzhaft ihren Mann, «Plüffi heute im H.O. Gut, gut… Und nach dem Meeting?…»
Lieferantengespräch. Mit Herrn und Frau Hunziker. Die werden ein Gesicht machen! Die werden sich krümmen vor Lachen!
Danach Mittag und dann … müsste ich jetzt nachschauen können.
Am Abend vielleicht wieder mal was vom Lieferdienst bestellen, oder Plüffi mit den Kindern kochen lassen. Ja. Knusprige Ente Hong Kong. Dann also lieber doch bestellen.
Einkauf ist schon erledigt, Putzfrau kommt erst morgen, ich sollte endlich mal diese Scheissquittungen sortieren und … … Ach! Was soll’s? Das kann auch noch warten, oder Plüffi kann’s ja mal wieder machen. Ob ich’s ihm wohl sagen müsste oder ob er’s dann schon selber merkt?
Lorena DiNardi hatte zwar keine Uhr dabei, aber vermutlich sass sie jetzt schon zehn oder fünfzehn Minuten im Schneidersitz auf dem runden, grünen Teppich im Bad und in diesem grellen Licht, an das sie sich mittlerweile gewöhnt hatte. Sie merkte aber, dass ihr eine halbe Stunde dösen wohl noch guttun würde, bevor dann der Wecker mit seinem Krawall startete.
«Wie spät ist es?», fragte ihr Mann.
«Bald Zeit zum Aufstehen.»
Unter der Decke war es warm, die Luft im Schlafzimmer war feucht und stickig und sie stank.
«Wo warst du, und wer bist du, wenn du schläfst?», fragte sie.
«Was?…»
«Wer bist du, und wo bist du, wenn du schläfst?… wenn du träumst, meine ich. Bist du zu Hause? Bist du du?»
«Wer sollte ich denn sonst sein?», erwiderte ihr Mann grummelig in die bis zur Nase hochgezogene Decke hinein.
«Das weiss ich nicht. Deshalb frag ich dich ja.»
Wieder drehte sich ihr Mann von ihr weg.
«Ein Eisbär. Am Südpol oder so. Sibirien, Alaska. Was weiss ich.»
«Das ist aber nicht dasselbe.»
«Weiss ich. Mir wurst.»
«War das diese Nacht?»
«Ja. Vielleicht.»
«Und in der gestrigen Nacht? Wer warst du dort?»
Er holte einmal tief Luft und seufzte.
«Weiss ich doch nicht mehr…»
Er schwieg, und weder Lorena DiNardi noch ihr Mann bewegten sich.
Dann sagte er plötzlich:
«In einem Film oder so, glaub ich. Gefährlich war’s. Mit Maschinengewehren und Verfolgungsjagt wie in den Zwanzigern.»
«Und weiter?»
«Nichts weiter … stinkreich war ich. Aber das war wieder ein andrer Traum. Thomas Gottschalk oder so, am Strand oder so.»
«In derselben Nacht?»
«Manchmal war ich Thomas Gottschalk, dann aber auch wieder nicht… Dann war ich vermutlich ich. Weiss es doch nicht.»
Sie berührte mit der Hand seinen feuchten, warmen Rücken.
«Und was davon gefiel dir besser? Eisbär im Polareis oder Thomas Gottschalk in Florida?»
«Weiss ich nicht mehr … beides … irgendwie…»
Sie drehte sich von der Rückenposition zur Seite und schaute auf den Wecker. Dann zog sie sich die Decke bis über den Kopf, dass es warm wurde und so richtig dunkel wurde.
Wenn ich jetzt nochmals einschlafen könnte, dachte sie nun, ja, wenn ich jetzt nochmals, für zehn Minuten wenigstens, schlafen könnte, dann könnte ich noch einmal kurz Lorena DiNardi sein.
mf.