Wie Sterne, die vom Himmel fallen

Eine Weihnachtsgeschichte

Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Dezember 2018–Dezember 2019.

In einem kleinen Dorf und etwas abgelegen lebte einst eine alte Dame alleine in einem grossen Landhaus, und wie all Jahr besuchte ich sie auch zur Adventszeit in ihrem letzten Lebensjahre.

«Ach, wie schön dich zu sehen, mein Kleines!», strahlte sie, als ich draussen im Wind vor ihrer Türschwelle stand und sie mir weit das Tor öffnete.

«Hallo Agnes», sagte ich.

«Komm schnell rein – rein in die Wärme!», sagte sie, und sie winkte dabei hastig mit ihren Händen, «komm komm komm!» Es war trocken draussen, aber kalt; in jenem Winter war noch keine einzige Schneeflocke gefallen. Der Sommer war, wo ich ihn verbracht hatte, mehr von Regen als von Sonnenschein gezeichnet gewesen, und dann hatte sich ein furchtbarer Nebel aus dem Morast erhoben und sich wie eine seidne Decke lautlos und schleichend über den Herbst gebettet.

«Wie war dein Flug?», fragte sie.

«Wie jeder andre meiner Flüge», sagte ich und trat ein. «Hier, für dich!» Ich übergab ihr eine Büchse mit selbst gebackenen Keksen. «Es tut mir leid», sagte ich. «Dieses Jahr sind sie mir nicht besonders gelungen.» Auch fiel es mir schwer, auf dem Markt all Jahr eine neue Büchse zu finden, welche die vergangenen in ihrer Verarbeitung und Schönheit, in ihrer Einzigartigkeit und Eleganz übertraf. Eine bessere wie diese gab es nicht.

«Mach dir keine Sorgen, mein Kind!» So nannte sie mich mit dem gütigen Glanz in ihren Augen. «Ich bin mir sicher, dass sie mir auch dieses Jahr wieder vorzüglich schmecken werden. – Bin gleich zurück!»

Während sie in die Küche ging, hängte ich den Mantel samt Schal an den Haken, und ich sah mich ein wenig in der warmen Stube um. Nicht viel hatte sich verändert seit meinem letzten Besuch. Noch immer war der Boden mit grossen, orientalischen Teppichen ausgelegt, auf denen man sich weich fortbewegte; an den ockerfarbenen Wänden hingen Malereien ruhiger Landschaften aus dem Norden neben Bildern stürmischer Schlachten aus dem Süden. Was mir auffiel, aber, waren die vielen hübsch und liebevoll eingerahmten Fotografien, die das ganze Leben meiner Freundin zu erzählen schienen. Vom schnellen Ritt auf einem majestätisch schönen Rappen bis hin zur Pflege alter, verkrüppelter und hässlicher Menschen war alles dabei. Da wurde mir bewusst, dass, obschon ich ihr durch unsren langjährigen Briefwechsel bereits alles über meine Person mitgeteilt hatte, was ich einer Fremden nur mitteilen konnte, ich von Agnes so gut wie gar nichts wusste.

«Bitte, machs dir bequem, mein Kind!», sagte sie, als sie mit einem silbernen Tablett zurückkam.

Ich liess mich nieder auf einen der flauschig warmen Sessel vor dem knisternden Kamin. «Darf ich?», fragte ich, und sie nickte. Ich streifte meine Stiefel ab und stellte sie neben meine Tasche hin. Und in der Zwischenzeit hatte Agnes das Tablett auf das Tischchen gestellt, das sich in der Mitte der beiden Sessel befand, und sich auf der andern Seite des Tisches zu mir gesellt.

«Wie ist denn das Leben so, meine Liebe?», fragte sie nun, und sie reichte mir eine kunstvoll geschliffene gläserne Tasse mit köstlich riechendem Kakao.

«Nach wie vor viel unterwegs … », sagte ich. Damals lebte ich ausschliesslich in Hotels und in den Städten meiner Kunden. «Und bei dir?», fragte ich. Gerade biss Agnes genüsslich in einen meiner Kekse rein; zuvor hatte sie auch mir einen auf meine Untertasse gelegt. Jetzt schluckte sie, dann sagte sie: «Ja, ja … », und gleich nahm sie noch einen Bissen und lächelte mir zu.

«Ich habe eine kleine Geschichte für dich», sagte sie, jetzt mit Krümeln an den Lippen, noch ehe sie den Keks ganz runtergeschluckt hatte. Sie putzte sich ihre Finger an der Serviette ab. Langsam und vorsichtig schlürfte sie an ihrem dampfenden Kakao; dann sprach sie: «Siehst du den einsamen Baum da, hoch oben auf dem Hügel?», und sie drehte sich im Sessel zu dem Fenster hin, das sich hinter ihrem Rücken befand, und zeigte mit dem Finger nach draussen. «Eine alte Tanne ist es», fuhr sie fort, «die so alt ist, dass man ihr Weisheit zuspricht. Und sie stammt aus einer magischen Zeit, aus jener vormenschlichen Welt nämlich, wo Schwarz und Weiss dasselbe sind.»

Ungläubig sah ich sie an, mit Absicht also, und ich nickte, wusste sie doch genau, dass ich nicht an Gespenster und dergleichen glaubte.

«Doch, doch!», sagte sie mit weit aufgerissnen Augen. «Wer ihren breiten Stamm berührt, so sagt man, der sehe in der Nacht ihre kristallnen Tannzapfen funkeln, die einem die Zukunft zeigen können. – Wer genau hinhört, der höre den Wind durch ihre Äste blasen und, als ob er an den Saiten einer Geige streichte, seine zärtlichen Lieder spielen. – Und wer die Tanne so ganz kräftig umarmt, so munkelt man, dem werde himmlische Einsicht zuteil!»

Ich sah ins knisternde Feuer und wippte nur ein wenig mit dem Kopf. Jetzt nahm auch ich einen Schluck vom Kakao.

«All dies ist wahr, meine Liebe, vorausgesetzt, man glaube fest an ihren Zauber. Und am heiligen Abend eines jeden Jahres ist die Tanne ganz besonders gütig zu den Menschen.»

«Und wie geht nun die Geschichte?», fragte ich, bereits etwas gereizt und ungeduldig.

«Wie du weisst», fuhr sie fort, «gibt es in unserem Dorfe viele Familien, und jede von ihnen ist auf ihre eigne Art bemerkenswert. Von einer dieser Familien, die ich per Zufall gut kenne, möchte ich dir gerne erzählen und von einem speziellen Jahr und dem einzigartigen Weihnachtsfest in jenem Jahr.

Das Haus, in dem sie wohnen, steht auf starkem Fundament. Intelligent gebaut ist es und hübsch. Sah man dazumal genau hin, aber, so merkte man auch, dass es nicht mehr das jüngste war. Folglich liessen Vater und Mutter, da sie es sich selbst aufgrund wichtiger und ineinander verzahnter beruflicher, gesellschaftlicher und sonstiger Verpflichtungen nicht einrichten konnten, im Spätsommer einen Maler kommen, der für sie die Fassade neu strich.

Doch auch im Innern des Hauses bröckelte die Farbe langsam von den Wänden, und in den abgelegensten Ecken zeigten sich die ersten Risse.

Es war ein schlechtes Jahr gewesen für jeden einzelnen in der Familie; so waren alle froh und sich darin einig, dass es bald zu Ende gehen sollte. Der Vater, der treueste Diener des Geschäfts, für das er krampfte, rechnete schon lang mit einer Beförderung – und als jene Stelle, auf die er so hoffte, endlich frei geworden war, da standen auch die Chancen für ihn gut; womit er nicht gerechnet hatte, aber, war seines Vorgesetzten Cousin, der eben erst sein Studium abgeschlossen und die freigewordne Stelle prompt für sich beansprucht hatte.

Die Mutter, die hatte dann doch in der Stadt und nach Jahren der Arbeitlosigkeit für ihre eignen Malereien eine kleine Galerie eröffnet; ihr grosser Traum wäre somit in Erfüllung gegangen, hätte sich auch bloss jemand finden lassen, der sich für ihre Kunst interessierte.

Die Tochter, die kleine Angelika, liessen die Eltern frühzeitig einschulen, und seither war sie immer öfter und dann lange zu Hause krank im Bett gelegen; wenn es so weiterginge, sagte am Elterngespräch ihr Lehrer zu den Eltern, müsste die Arme, wohl oder übel, die erste Klasse wiederholen.

Und der Bub, zuletzt, der! – Dem war stets nur weinerlich zumut, und so schien er (trotz aller Pflege, die ihm zukam) in der Krippe, wo er den einen um den andern Tag verbrachte, schlicht unergründlich unzufrieden.

«Also», sagten sich die Eltern, «soll wenigstens das Weihnachtsfest in schöner Erinnerung bleiben. Es soll das schönste werden, das wir je gefeiert haben!» Und auch die Kinder freuten sich schon seit Wochen, gar seit Monaten, auf den grossen Tag, und konnten kaum noch ruhig sitzen, als es dann endlich soweit war.

Der Vater hatte sich am Vorabend die neue Schürze umgelegt, hatte mit den Vorbereitungen begonnen und schon mal die Messer, von denen er Gebrauch zu machen gedachte, geputzt und ordentlich geschärft. Beim Metzger hatte er eine fette Gans bestellt gehabt und sich ausführlich beraten lassen. Auch hatte er Rezepte verglichen und bereits früh von Freunden und Bekannten Ratschläge eingeholt, was denn eine gute Weihnachtsgans ausmache. Jetzt lief ihm, nur schon bei dem Gedanken daran, vor Freude das Wasser im Munde zusammen.

Die Mutter hatte sich zunächst durch Kataloge gewühlt, war dann aber doch in die Stadt gefahren und hatte sich einen ganzen Nachmittag lang in Läden rumgetrieben. Sie setzte sich in einem dieser Läden an eine gedeckte Tafel, auf der ein silberner Kerzenständer mit langen, roten Kerzen glänzte, sah die silbernen Girlanden an den Wänden, die Tanne mit silbernem Christbaumschmuck, streichelte das Silberbesteck, das vor ihr lag, und betrachtete ihr Gesicht im spiegelnd polierten runden Teller. – Als sie mit vollen Taschen per Zufall an ihrem liebsten Modegeschäft vorbeikam und ihr Blick das Schaufenster erhaschte, da konnte sie, als ihr innres Auge sie in diesem roten Kleid erblickte, auch da nicht widerstehen!

Am Vierundzwanzigsten dann, an Heiligabend, zog die Mutter der Kleinen ein weisses Kleidchen über, nachdem diese ihr am Rücken den Reissverschluss zugemacht hatte. Mit Puder und rotem Lippenstift schminkten sie sich gerade im Bad, als der Bub zum Vater herein in die warme Küche getappt kam. Herrlich roch es dort nach dem festlichen Essen, nach köstlichem Fleisch, nach Saucen, nach Gewürzen – und als der Bub sich langsam dem warmen Ofen näherte, auf allen Vieren nun, da erblickte er im Ofen, in seinem schummrigen Lichte, die knusprige braune Weihnachtsgans genüsslich vor sich hinschmoren.

Neben dem Herd stand der grosse Vater, der mit unterschiedlichen kurzen und langen, aber allesamt scharfen Messern hantierte und das Gemüse rüstete.

«Na, du!», sagte dieser.

Seitlich schaute er zu seinem Buben runter, der mit erhelltem Gesichte ganz nah am Ofen auf dem Boden sass.

Der Vater zwinkerte ihm einmal zu, streckte seine lange Zunge raus, «äääh!», und schnitt nicht nur das Gemüse sondern auch sonst allerlei lustige Grimassen. Der Bub aber, der ward von der Weihnachtsgans jetzt völlig verzaubert, und so schien er das kleine Theater seines Vaters kaum zu bemerken. Nur kurz schenkte er ihm sein strahlendes Lächeln; dann gleich wandte er sich wieder von ihm ab und der Gans zu, die im heissen Ofen wunderlich schwitzte und glänzte.

Vorsichtig tappte der Junge nun im ganzen Haus umher, ging ins Wohnzimmer, wo es nach Weihrauch roch und aus dem Radio die Stimme Frank Sinatras erklang, und lief vorbei am festlich gedeckten Tisch, an der mit Silberbesteck, Silbertellern und einem silbernen Kerzenständer geschmückten Tafel, …I’ll be home for Christmas…, um vor dem grossen Baume, vor der hohen Tanne, silber-grün und glitzernd, halt zu machen und auch sie …if only in my dreams… zu bestaunen!

Einsam stand unter der Tanne, ganz zuunterst und in den finstren Schatten ihrer weitesten Äste gehüllt, die dunkle Krippe aus Holz. Einsam und allein stand auch der Bub vor diesem Baume, und er betrachtete ihn von unten bis oben. Von den vielen schweren Kerzen und den unzähligen Kugeln und Girlanden, die hübsch im Kerzenlicht erstrahlten, wurden die Äste bis weit nach unten gezogen, dergestalt, dass die Krippe von aussen kaum noch zu sehen war.


«Wann kommt das Christkind, Mama?», fragte die Schwester die Mutter, als sich der Bub wieder im Bad befand. Und die Mutter erklärte: «Nicht vor dem Essen, mein Schatz.»

Nach einer Weile fragte die Schwester erneut: «Wann kommt denn jetzt endlich das Christkind, Mama?» Und abermals antwortete die Mutter: «Nicht vor dem Essen, mein Schatz.»

Da, plötzlich, polterte und schepperte es von unten aus der Küche heraus, und lauthals schrie der Vater auf:

«Ah!… Mist!… Verdammter Mist!… … Verdammter, verdammter … »

Sogleich warf die Mutter, als sie dies hörte, die Wimperntusche samt dem kleinen Bürstchen ins Waschbecken hinein, liess alles liegen und rannte, dem Vater zu helfen, die Treppe hinunter und in die Küche.

«Was ist denn los?… Was ist passiert?… Herrgott noch mal!»

Dieser stand mit bleichem, von Schreck gezeichnetem Gesichte regungslos und schweigend vor dem Spülbecken, Schweissperlen auf seiner gerümpften Stirn, und liess kaltes, zunächst klares, sich dann unter der Hand rötlich färbendes Wasser über seinen blutenden Finger laufen. Die Mutter näherte sich ihm von hinten und legte ihre linke Hand auf seine rechte Schulter.

«Das ist ja typisch», sagte sie.

Er aber schwieg, drehte nur rasch seinen Kopf in ihre Richtung und warf ihr, über seine Schulter hinweg, einen hilfsbedürftigen Blick zu, ehe er sich wieder seiner pulsierenden Wunde widmete.

«Warte kurz», sagte die Mutter. «Ich werde das Verbandszeug holen.» Und sogleich war sie auch schon wieder da mit einem kleinen weissen Köfferchen in der Hand, das so aussah, als sei es ein Spielzeug – ja, das dem Aussehen nach ebenso gut hätte eins der Weihnachtsgeschenke für die Kinder sein können, nur eben, der Notsituation gemäss, bereits ausgepackt.

Die Mutter legte das Köfferchen neben das Spülbecken hin und öffnete es. Leise sprach sie: «Das hast du nun von deinen unnötigen Spielzeugen … », und während sie das sagte, schraubte sie das Fläschchen Alkohol auf und blickte den Vater von der Seite an. Als dieser aber auf ihren Kommentar nicht reagierte, sagte sie: «Jetzt zeig schon her!», und sie drehte mit der freien Hand den Hahn zu.

Er zeigte ihr also seine Wunde: Der Schnitt schien etwas tiefer zu sein, und das Blut lief über den Finger in Richtung seines Handgelenks und tropfte unentwegt auf den blanken Chromstahl hinunter.

«Das ist mir nur passiert», rechtfertigte sich der Vater nun, «weil ich für einen Moment nicht aufgepasst, mich nicht ausschliesslich aufs Schneiden konzentriert habe, sondern gleichzeitig auch noch der Gans schauen wollte.»

Er hatte sich quer in den Zeigefinger geschnitten und konnte von Glück reden, dass das Stückchen Fleisch noch an seinem Finger hing und er es nicht mit einem dieser neuen und eben erst am Vorabend geschärften Messern gänzlich abgeschnitten hatte.

«Hättest auch mal kurz vorbeischauen können, weisst du?!», meinte der Vater jetzt, «dann wär mir das wahrscheinlich nicht passiert. Aber ich muss ja wieder einmal mehrere Dinge gleichzeitig tun und auf die Reihe kriegen, während ihr euch oben im Bad amüsiert!… ja, während ihr euch im obern Stock eine schöne Zeit macht, und das bereits seit … seit … … seit einer Dreiviertelstunde … oder noch länger!»

Da sah ihn die Mutter streng von der Seite an, und sie leerte ihm einen ordentlichen Spritzer Alkohol über die Wunde.

«Autsch!», schrie der Vater auf, der nicht damit gerechnet hatte, und er verzerrte sein Gesicht zu einer komischen Grimasse. «Was braucht ihr denn überhaupt so lange?», fragte er.

«Nun… zunächst einmal hatten wir uns zurechtgemacht, unsre Kleider angezogen, wie du hoffentlich unschwer erkennen kannst, und dann… als wir dein lautes Poltern aus der Küche hörten, da waren wir uns gerade am Schminken gewesen, die Angelika und ich.»

«Ach ja … »

«Ja», sagte die Mutter, «ja. Und zuvor hatten wir wohl den Baum geschmückt, die Kerzen angezündet, die Tafel gedeckt und überhaupt die ganze Stube gemütlich und festlich dekoriert und eingerichtet! Was hast du denn gedacht?!»

«So so!», sagte der Vater entrüstet, «der Baum also brennt schon, ohne dass ich beim Anzünden dabei sein durfte! Wer, bitteschön, ist denn auf diese neue Idee gekommen?»

«Der Baum, mein Lieber, der brennt mit Bestimmtheit nicht, nur die Kerzen an dem Baume, und diese dafür umso schöner! Aber einerlei. – Sag nun, da ich ja sowieso schon hier bin: was ist jetzt eigentlich mit deiner Gans?»

Mit einer dicken Watte drückte die Mutter zunächst den abstehenden Haut- und Fleischfetzen gegen den Finger und wickelte diesen nun eng mit einem Verband ein, dass der Vater fast glaubte, ihm werde bald der Finger abfaulen. Dann bückte sie sich und schaute in den Ofen.

«Ich glaube», sagte sie, «wir sollten die Ofentür mal wieder putzen.»

«Weshalb?», fragte der Vater, «die hab ich doch vor nicht allzu langer Zeit erst eben geputzt.»

Ungläubig schaute ihn die Mutter an.

«Nun», sagte sie, und dabei zeigte sie auf den Ofen, «ich kann hier drinnen keine Gans erkennen!»

Da wurde der Vater langsam stutzig.

«Schalt den Ofen aus! Sofort!», befahl er ihr.

Als die Mutter den Ofen abgestellt hatte und nun die Ofentür öffnete, da füllte sich der Raum mit kratzigem, dichtem Qualm.

«Heilige Scheisse!», sagte der Vater nur, sank auf die Knie, blickte die verkohlte Gans an und liess geschlagen seinen Kopf, seine Schultern und seine Arme hängen. «Und dabei hatte ich mich doch genauestens ans Rezept gehalten!»

Unterdessen hatte die Mutter alle Fenster, die sie erreichen konnte, geöffnet und die Tür zum Wohnzimmer geschlossen.

«Komm! Wir gehen lieber schnell raus hier», sagte sie.

Doch im selben Moment erklang die Stimme Angelikas gedämpf hinter der Tür aus dem Wohnzimmer:

«Mama! Mama! Schnell! … Papa, schnell!»

«Nicht jetzt!», schrie der Vater. Er schrie so laut, dass sich seine Stimme vor Anstrengung fast überschlug.

«Der Baum! Der Baum!», kreischte die Kleine aber weiter, «der Baum! Der Baum!»

«Hol den Feuerlöscher!», befahl die Mutter jetzt dem Vater, als diese bereits eine Ahnung hatte, was passiert sein könnte. Der sprang sogleich auf die Füsse, und wie ein aufgeschrecktes Huhn rannte er davon und in die Garage.


Die grösste Katastrophe – das Haus zu verlieren – hatte der Vater mit dem Feuerlöscher in der Hand im letzten Moment gerade noch verhindern können. Die ohnehin schon hässlichen Wände wurden allerdings von den heissen Flammen schrecklich in Mitleidenschaft gezogen. Das Wenige, was von der Tanne noch übrig geblieben war, sah dafür umso hübscher aus, nämlich so, als wäre es mit flockigem, dichtem Schnee bedeckt, was man, wie fast jedes Jahr in dieser Gegend, von den Bäumen draussen kaum behaupten konnte.

«Bist du eigentlich nicht mehr ganz bei Sinnen?!», schnauzte der Vater die Mutter an. «Du kannst doch nicht die Kerzen am Baum brennen und ihn dann die ganze Zeit unbeaufsichtigt lassen!»

«Das wär wohl nicht passiert, wenn du nicht, wie jedes Jahr, auf einen prächtigen und voll geschmückten Baum bestehen würdest, so wie du es von deiner Kindheit und deinem Elternhaus her kennst!»

«Ja aber, um Himmels Willen! Musstest du ihn denn auch gerade so voll schmücken? Mit dem Schmuck, den wir bereits hatten, hätte das arme Tännchen wenigstens noch ein bisschen Luft zum Atmen gekriegt. Aber nein! Du musstest ja unbedingt noch zusätzlichen Schmuck kaufen, um es darunter zu ersticken!»

Während die Eltern sich stritten, hatte die Angelika sich in eine dunkle, ruhigere Ecke verkrochen, wo sie zu schluchzen und zu weinen begann. Niemand kam, nach ihr zu sehen. Niemand, ausser der Bub, der sich ebenfalls versteckt hatte, hätte sie überhaupt bei dem Lärm, den ihre Eltern veranstalteten, hören können.

«Du kümmerst dich um den verkrüppelten Baum, während ich die Schweinerei in der Küche aufräume!», befahl der Vater der Mutter. Er verschwand, währenddessen sie sich an die gedeckte Tafel setzte, ihren Kopf hängen liess und ihr Gesicht in den Händen vergrub. «Mir fällt noch die Decke auf den Kopf!», weinte sie still in sich hinein. «Was für ein beschissenes Jahr!…»

In diesem Augenblick begann es zu rasseln – es musste von irgendwoher draussen kommen –, und dies Rasseln wurde immer lauter und lauter, bis jetzt plötzlich grosse Regentropfen gegen die Scheiben prasselten, zu Eis gefroren und sich zu kleinen Kügelchen verdichteten, die nun laut an den Fenstern trommelten.

Der Bub kroch aus seinem Versteck hervor, blickte, an einem der Fenster stehend, hinaus in die Finsternis, und presste seine Handflächen und die Nasenspitze gegen die Scheibe. In der Nähe war das Weinen seiner Schwester zu hören, durch das heftige Trommeln beinah übertönt, während im Hintergrund lautes Rumpeln und Poltern aus der Küche drang, begleitet von den Flüchen und Verwünschungen des Vaters.

Jetzt wurde es wieder leiser; das Trommeln des Hagels hatte aufgehört; die Stille hörte sich fast unheimlich an. Da sagte der Bub: «Da!», und er drückte den Zeigefinger fest ans Glas, blickte fortwährend in die stille Nacht hinaus. Auch die Angelika hatte sich indes wieder etwas beruhigt.

«Da!», sagte der Bub ein weitres Mal, ehe er seinen Blick seiner Mutter zuwandte. Diese jedoch schien in Gedanken versunken; ihr Gesicht an ihre Hände gepresst, sass sie noch immer regungslos und weinend am silbernen Tisch.

Langsam näherte sich nun die Schwester dem Buben, um nachzuschauen, was dieser wohl gesehen habe. Sie trat neben ihn hin und blickte zum Fenster hinaus.

«Mama! Papa!», rief sie jetzt. Die Mutter aber machte keinen Wank. «Mama, Papa, schnell!»

Da erloschen in der Küche die Flüche.

«Was ist denn jetzt schon wieder?!», schrie der Vater aus der Ferne. Und die Kleine antwortete: «Die Sterne fallen vom Himmel!»

«Was hast du gesagt?», fragte der Vater, der jetzt von der Küche aus ins Wohnzimmer blickte.

«Die Sterne fallen vom Himmel! Mama, Papa, die Sterne! … Wie goldne Taler fallen sie vom Himmel und zur Erde!»

«Ja, ja … », meinte der Vater bloss, «schön, wenn’s so wär!… Schön, wenn doch alles nur so einfach wär!», und sogleich verschwand er auch wieder in der Dunkelheit.

«Komm», flüsterte die Kleine ihrem Brüderchen ins Ohr, «wir werden’s ihnen schon noch zeigen!»

Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn hastig zum Kleiderständer, der im Eingangsbereich des Hauses stand.

«Setz dich!»

Sie holte die kleinen Stiefelchen hervor und zog sie dem Buben über die Füsse. Dann half sie ihm, wieder aufzustehen.

«Schön hierbleiben!», flüsterte sie weiter.

Sie ging kurz weg und kam warm eingepackt und mit ein paar Kleidern in den Händen zurück. Zuerst zog sie ihrem Bruder die Fäustlinge über die Hände, dann die Mütze über den Kopf, und sie wickelte ihm den Schal um den Hals. Zuletzt half sie ihm in die dicke Jacke hinein. Sie öffnete die mittlere Schublade der Kommode, die beim Eingang stand, und kramte ein wenig darin herum, bis sie die kleine Taschenlampe fand, die sie gesucht hatte.


Draussen war es eisig kalt geworden, und auf der finstren und mit Wolken bedeckten Nacht lag eine ungewöhnliche, gefrorne Stille. Die kleinen Eiskügelchen hatten sich unterdessen in Schneeflocken gewandelt, die immer grösser und flauschiger wurden, und sie wirbelten und glitzerten im gelblich warmen Schein der paar wenigen Strassenlampen, welche die nasse Strasse im Quartier beleuchteten.

Mit der Taschenlampe in der einen Hand und ihrem Brüderchen an der andern trat Angelika um die Ecke. Der kalte Wind blies ihr die riesigen Schneeflocken heftig ins Gesicht, sodass sie anhielt und dem Buben die Kaputze über seinen Kopf zog und seine Jacke bis ganz oben zumachte. (Der sah jetzt aus wie ein kleiner Eskimo!) Dann machte sie auch den Reissverschluss an ihrer Jacke bis ganz oben zu.

Als die beiden die grosse Hauptstrasse des Dorfes erreicht hatten, hatte der Schnee begonnen, am Boden liegenzubleiben. Sie liefen dem schmalen Trottoir entlang, als immer wieder mal ein Auto schnell an ihnen vorbeifuhr – oder gar ein grosser Bus oder ein schwerer Laster! – und ihnen die Sulze an die Jacke und über die Stiefel schleuderte. Angelika wusste, dass ihr solche Nachtaktionen, insbesondre bei dieser Witterung, strengstens verboten waren. Ein wenig Angst hatte sie schon. Sie drückte die Faust, welche die Hand ihres Bruders umschloss, fester zu, zog den Kleinen etwas näher an sich heran und von der Strasse weg.

Nach einer Weile hatten sie den Rand des Dorfs erreicht. Die kleine, schwache Taschenlampe war das Einzige, was ihnen jetzt noch den Weg leuchtete. Sie überquerten eine rutschige, alte Brücke aus Holz, unter der ein Bach hell und laut rauschte und schäumte. Gleich nach der Brücke wollte Angelika, mit ihrem Brüderchen an der Hand, die Strasse überqueren, die gegen das Land hinaus in einer weiten Kurve um eine kleine Anhebung herum in der Dunkelheit der Nacht verschwand.


«Wo sind eigentlich die Kinder?», fragte die Mutter den Vater zu Hause in der warmen Stube. «Hast du die Kinder gesehen?»

«Keine Ahnung», sagte dieser. «Du hattest doch auf sie aufgepasst.»

«Ich?!», rief die Mutter empört, «wieso denn immer ich?»

Da wurde der Vater zornig.

«Während ich die Schweinerei aufgeräumt habe, hättest du ja wohl wenigstens auf die Kinder aufpassen können! Aber nein, so wie ich dich kenne, hast du wieder einmal nichts Besseres zu tun gehabt als dazusitzen und in dich hineinzuheulen! Nicht wahr?!»

«Scheisse!…», sagte die Mutter jetzt verzweifelt, und sie rief «Angelika!» durchs Haus, die Treppe hoch in den oberen Stock – «Angelika!», rief sie in den Keller hinunter.


Indessen war der Bub in der Mitte der Strasse beim Überqueren auf die Knie gefallen. Von Weitem hörte seine grosse Schwester ein Auto nahen.

«Komm schnell hoch!», sagte sie. Sie hatte ihren Bruder keine Sekunde lang losgelassen, und so schleifte sie ihn jetzt hinter sich her, bis sie beide zusammen die andere Seite der Strasse erreicht hatten. Fast hätte der Bub zu weinen begonnen – ein fetter Laster sauste vor ihren Augen mit hohem Tempo über die verschneite Strasse –, doch Angelika drückte ihn fest an sich.

Nun stapften sie über die Wiese durch den immer tiefer werdenden Schnee, bis sie am Fusse eines Hügels ankamen. Angelika schaute nach hinten: das Dorf lag hinter ihrem Rücken. Dann schaute sie den Hügel hinauf.

Zum Glück war der Hügel nicht besonders steil und hoch, sodass sie zu ihrem Bruder sagte: «Geh vor, ich bleibe dicht hinter dir», und ihn nun mit der einen Hand den Hügel hinaufschob, während sie mit der Taschenlampe in der andern ihm den Weg leuchtete.

Oben angekommen stand eine riesige, alte Tanne vor ihr, mit dickem Stamm und ein paar dicken, aus der Erde ragenden Wurzeln. Hoch über ihrem Kopf schwebten die Ehrfurcht einflössenden Äste, welche in weiten und langsamen Bewegungen im Winde wogen. Angelika drehte sich um und sah das niedliche Dörfchen ruhig unter ihren Füssen liegen:

Schornsteine ragten aus den weissen, von Schnee bedeckten Dächern hervor; dünne Fäden aus Rauch stiegen im schummrigen Licht, das wie ein Nebel über dem ganzen Dorfe lag, zum Himmel empor, welcher sich hinter einem undurchdringbaren Schirm aus Wolken versteckte; einzelne Fensterchen zwinkerten Angelika freundlich zu.

Mit der Taschenlampe leuchtete sie den Hang, den sie aufgestiegen war, hinunter, wo ihre Fussstapfen im Schnee zu sehen waren. Die Spur verlief über die Wiese zur Hauptstrasse hin – doch so weit vermochte das schwache Licht der Lampe den Schneevorhang gar nicht durchdringen!


«Wo ist die Taschenlampe?!», rief die Mutter. Sie stand im Eingangsbereich ohne Stiefel, hatte aber bereits den Mantel angezogen, die Knöpfe zwar noch offen, und kramte jetzt in der mittleren Schublade der Kommode herum, die sie offenstehend vorgefunden hatte.

«Warte!», rief der Vater, «ich hab sonst noch eine in der Garage! … im Kofferraum! … »


Langsam näherte sich Angelika der alten Tanne, unter deren Ästen sie nun vom Schnee, der immer dichter und grossflockiger zur Erde fiel, geschützt war. Mit der Taschenlampe beleuchtete sie den Stamm, und sie betrachtete dessen vielzählige lange und tiefe Runzeln.

Sie machte einen weiteren Schritt auf den Baum zu, als sie ihre Hand nach dem Stamm ausstreckte und diesen sachte mit den Fingerspitzen berührte. Langsam fuhr sie mit den Fingern über diese rauhe Oberfläche; dann setzte sie ihre Handfläche auf dem Stamm ab, als es plötzlich ganz hell wurde, der Wind ihr kräftig durch die Haare blies, und ihr Gesicht in einem hellen Schein, der ihre Augen blendete, erstrahlte.

Was geschieht bloss mit mir?, dachte sie.

Nachdem es wieder etwas dunkler geworden war, öffnete Angelika ihre Augen, sah sich um, schaute zu Boden und blickte zuletzt nach oben. Dort, wo die ersten Äste zu sehen waren, funkelten und glitzerten ihr jetzt kristallne Tannzapfen in einem herrlichen Licht entgegen. Als sie aber ihre Hand vom Stamm nahm und sich ihrem Bruder zuwandte, da ward es finster, und die Kristalle, die eben noch vorhin so freundlich gezwinkert hatten, waren jetzt plötzlich wieder verschwunden.


«Angelika!», rief die Mutter in die finstre Nacht hinaus, «Angelika!… Wo seid ihr?!…», rief der Vater. Mit der grossen Taschenlampe durchsuchten die Eltern das ganze Quartier, doch die Kinder waren nirgends zu finden. So weiteten sie ihre Suche aus, überquerten Strassen, rannten durch Quartiere und Gassen, bis sie am Ende das Zentrum des Dorfs erreicht hatten.

«Herrje! Wo sollen wir denn noch suchen?», rief der Vater aus. Und als er dies sagte, da schmiegte sich die Mutter an ihn heran, und er nahm sie in seine Arme. «Und wenn ihnen etwas zugestossen ist?»


Angelika sah zu ihrem Bruder rüber, dem sie vorhin die Taschenlampe in die Hände gedrückt hatte und der jetzt freudig damit spielte und in der Luft herumfuchtelte.

«Was sagtest du?», fragte sie ihn, als hätte er ihr soeben etwas mitgeteilt, obschon der Bub ja noch gar keine richtigen Sätze sprechen konnte. «Verstehe!», sagte sie. Sie sprang auf eine der grossen Wurzeln, die aus dem Boden ragten, streckte ihre Arme zur Seite und balancierte auf der Wurzel, dabei vorsichtig den einen Fuss vor den andern setzend… und als sie den Stamm erreicht hatte, da liess sie sich sachte nach vorn fallen.

Fest drückte sie nun den Stamm des Baumes, und als sie dies tat, da erwischte sie wieder ein heftiger Windstoss von der Seite, und einer der kristallnen Tannzapfen, die erneut erschienen waren, fiel zu Boden und dem Buben vor die Füsse.

Sie trat zu dem Tannzapfen hin und sah ihn von oben verwundert an. Dann bückte sie sich und hob ihn vorsichtig auf.

Ganz schön schwer! dachte sie.

Sie hielt den Kristall vor ihrem Gesicht in ihren Händen, drehte ihn und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war wunderschön geschliffen, und das wenige Licht, das durch das Glas hindurchschien, funkelte herrlich in allen Farben des Regenbogens und bestrahlte ihr Gesicht. Ein wenig erinnerte er sie an das Kaleidoskop, das sie zu Hause hatten, und so kniff sie das eine Auge zu, führte den Tannzapfen heran an ihr andres Auge, und sah hindurch, als hielte sie eben so ein fernrohrartiges Ding in ihren Händen.

Doch sie sah nichts, es war finster und dunkel und schwarz wie die Nacht.

Dann aber, plötzlich, erschienen Lichter und Muster vor ihren Augen, und Farben begannen, lustig zu zittern und zu tanzen – fröhlicher noch als auf dem Christkindlesmarkt, den sie all Jahr mit der ganzen Familie zur Adventszeit besuchten! Und wenn sie so den Kristall in ihren Händen drehte, so drehten sich diese Lichter und Farben und Muster mit ihm, formierten sich neu, und neue Lichter, Farben und Muster entstanden aus den alten!

Die Eltern leuchteten mit der Lampe unter eine alte Holzhütte: Zusammengedrückte Bierdosen, Zigarettenstümmel, eine am Halse zerbrochene Glasflasche, Abfall und ein verlassenes Spinnennetz schauten ihnen entgegen.

«Was war das? Hast du auch grad zwei Augen gesehn?»

Nein, ihre Kinder hielten sich hier nicht vor ihnen versteckt: wahrscheinlich war es bloss eine Maus gewesen oder eine Ratte.

Die Eltern waren schon ganz verschneit und aussser Atem. Bitterlich weinte die Mutter auf der Schulter des Vaters, und auch ihm lief eine eiskalte Träne die rote Wange hinunter.

Als Angelika aber den Kristall vom Auge nahm, da hatte es aufgehört, zu stürmen und zu schneien. Nur ein scharfer, bitterkalter Wind blies jetzt plötzlich kräftig durch die Äste, wehte den beiden Kindern um die Beine, und fegte über die Erde hinweg, dabei den Neuschnee aufwirbelnd, der überall auf dem Hügel und der Wiese lag.

So stark blies der Wind, dass er die Wolken am Himmel auseinandertrieb. Und nun endlich zeigten sich die ersten Sterne, zeigten ihr himmlisches, goldnes Licht, als die Wolken wie Kontinentalplatten auseinanderdrifteten. Ein Meer aus blauen, gelben, grün und rot funkelnden Sternen offenbarte sich der Angelika über ihrem Haupt – ein Meer aus grossen und aus kleinen Sternen –, und diese begannen zu zittern, zu tanzen und am Firmament zu kreisen und lange Bahnen in den schwarzen Nachthimmel zu zeichnen, dabei lange, glitzernde Schweife hinter sich herziehend. Ja, wie in einem Aquarium voller Goldfische sah es aus, wie Goldfische, die geschwind und flink durchs schwarze Wasser flitzten!

Wie ein Feuerball begann jetzt der Kristall in Angelikas Händen zu glühen, ohne dabei ihre Hände zu verbrennen! Und als sie das sah und erkannte, was gerade vor sich ging, da bemerkte sie auch, wie sich ein Stern vom Himmel löste und langsam zur Erde fiel, wie er einen langen Schweif hinter sich herzog, auf einem der Hausdächer des Dorfes landete, dort sitzen blieb und lustig herumtänzelte. Danach löste sich noch ein Stern, wieder glitzerte dieser zur Erde nieder, wieder zwirbelte er in der Luft, einer einsamen Schneeflocke gleich, und von seinem breiten Schweife aus erklangen Melodien und Töne wie von kleinen Glöckchen. Er flog durch die Luft und setzte sich auf eins der andern Hausdächer.

Noch ein Stern fiel vom Himmel, dann noch einer, und noch einer, bis plötzlich ganz viele Sterne zusammmen vom Himmel fielen wie ein glitzernder, kristallner Regen!

Sie alle setzten sich auf die Dächer des Dorfes und erhellten die Nacht, setzten sich auch auf die Dächer der Nachbarsdörfer und der Nachbarsstädte – denn von weiter Ferne her war ihr Glühen hinter den Hügeln zu erkennen. Es regnete so herrlich und so lange, bis der ganze Himmel schwarz war, da es keine Sterne mehr in ihm gab, und das ganze Land unter den Füssen der Kinder in einem prachtvollen Glanz erstrahlte.

Das alles beobachtete die kleine Angelika oben auf dem Hügel unter der alten Tanne mit dem Bub. Sie sah, dass sich auf jedem der Dächer ein Stern gesetzt hatte. – Auf dem Hause der Familie aber, da hatte sich keiner gesetzt.

Unterdessen hatten sich die Eltern auf den Nachhauseweg gemacht. Zuhause angekommen würden sie der Polizei anrufen und sie um ihre Hilfe bitten. Da geschah es jedoch, dass sich der Boden unter Angelikas Füssen löste und ihr Bruder sie, zunächst unbemerkt, an der Hand hielt. Immer weiter und weiter stiegen sie in die Höhe, und als sie die Spitze der Tanne vor sich sahen, da begannen sie, langsam in der Luft den Hang hinunterzugleiten. Arm in Arm liefen die Eltern durch die verlassenen und kalten Gassen des Dorfs in Richtung heimwärts, dorthin, wo sie ein verbrannter Baum, eine verkohlte Gans, und eine Menge unausgepackter Geschenke erwarteten, die sie, da die Bescherung noch nicht eingetroffen war, noch stets in den Kellerräumen des Hauses vor den Kindern versteckt hielten. Die Mutter weinte auf der Schulter des Vaters, der seinen Blick gesenkt hielt und auf den weissen Weg starrte. Ab und an aber hob er seinen Kopf und sah zum Himmel hinauf, suchte, dort ein Zeichen zu finden, wie winzig und klein und flüchtig dieses auch sein mochte.

Einmal, als sie eine Weile so gegangen waren und der Vater eben seinen Blick gen Himmel gerichtet hielt, da sah er aus seinem Augenwinkel am Hang des weissen Hügels etwas Winziges aufleuchten.

«Da!», sagte er, und er zeigte mit dem verletzten Finger in die Richtung, woher dies Leuchten kam.

Die Mutter mit ihrem von Tränen verschmierten Gesicht blickte von des Vaters Schulter auf, und auch sie sah jetzt den Punkt funkeln und von grosser Ferne her ihnen zuzwinkern. Wie ein Stern, der die Erde besuchen kommt, kam er von oben herab und wurde dabei immer grösser und heller. Und als sich der Feuerball den Eltern näherte, ganz langsam, und dann plötzlich direkt vor ihnen stehen blieb, da wurde ihnen – das sag ich dir, mein Kind! – so richtig warm ums Herz … »


An dieser Stelle der Geschichte wurde meine alte Brieffreundin plötzlich still, und sie stellte ihre Tasse Kakao auf das Tischchen, das sich zwischen uns befand.

«Ha!», sagte sie, «vor lauter Erzählen hab ich völlig vergessen, auch nur einen einzigen Schluck zu trinken. Jetzt ist der Kakao ganz bestimmt schon kalt. – Möchtest du auch nochmals eine Tasse? Ich geh mir geschwind einen neuen machen.»

«Wenn du noch welchen hast, gerne», sagte ich.

Sie stellte beide Tassen auf das silberne Tablett, und als sie bemerkte, dass ich meinen Keks nicht angerührt hatte, da sagte sie:

«Oh, was ist denn mit dir los? Hast du etwa keinen Appetit?»

Und ich antwortete:

«Nein, ich hab grad wirklich keine Lust, tut mir leid … » Und dann fügte ich hinzu: «Da bleibt also mehr für dich übrig!»

«Das musst du mir kein zweites Mal sagen!», strahlte sie, und dann steckte sie sich den ganzen Keks in den Mund und machte sich kauend und irgendein Lied summend auf den Weg in die Küche.

Als sie den Kakao zubereitete, schaute ich seitwärts zum Fenster hinaus. Es war bereits etwas eingedunkelt, obwohl erst Mitte Nachmittag war. Oben auf dem Hügel stand diese alte, runzlige Tanne, von der diese Geschichte also scheinbar erzählte …


Mit zwei frisch dampfenden gläsernen Tassen kam sie jetzt zurück.

«Aufgepasst!», sagte sie, während sie das Tablett abstellte. «Dieser hier ist noch ganz heiss und etwas kräftiger – wenn du weisst, was ich damit sagen will!»

Ich schaute mir die Tassen genau an, konnte aber an der Farbe kaum einen Unterschied zu den vorherigen erkennen. Ich hätte erwartet, dass der Kakao etwas dunkler wär – doch im Gegenteil! Ich blickte zu Agnes hoch, die mir mit einem Auge schelmisch zuzwinkerte.

«Geht deine Geschichte eigentlich noch weiter?», fragte ich jetzt.

«Selbstverständlich, mein Liebes», sagte sie. Doch bevor sie wieder zu erzählen begann, nahm sie einen kräftigen Schluck ihres Kakaos, den sie sich mit geschlossnen Augen langsam auf der Zunge zergehen liess.

Dann also fuhr sie fort:

«Als die Familie, wieder vereint, zu Hause angekommen war, setzten sich die Mutter, der Vater und die tapfere Angelika in der Küche an den runden Esstisch. Der Vater holte den kalten Rest der Pizza vom Vorabend, die ihm recht gut gelungen war, aus dem Kühlschrank, und die Mutter suchte das Fotoalbum vom letztjährigen Neujahrsfest hervor und legte es, nachdem alle gegessen hatten und satt waren, in die Mitte auf den runden Tisch. Seite um Seite schauten sie sich gemeinsam die Fotos an, schmunzelten in Vorfreude, als sie die ersten Familienfotos sahen, lachten über die Verkleidungen und Grimassen, über die lustigen roten Clownsnasen, die grossen schwarzen Pappbrillen, die bunten Papiergirlanden in den Haaren, die riesigen Plastikschnäuze, die Fliegen und die Partyhüte auf den vier Köpfen dieser Familie.

Gemeinsam auch, so um diesen Tisch herum versammelt, gedachten sie alter vergangener Zeiten und sie überdachten die neuen – und die Mutter löste ein paar Fotos aus dem Album (diejenigen, über die am besten und am herzaftesten gelacht wurde) und hängte sie an die Innenwände des Hauses über deren Risse.

Währenddessen tappte und kraxelte der Bub wieder im ganzen Haus umher, bis er am Ende vor der abgebrannten Tanne stehenblieb und sich hinsetzte. Die dunkle Holzkrippe war vom Brand verschont geblieben, und ihr Innres ward jetzt von einer kleinen weissen Kerze erhellt. Der Bub sah in die Krippe hinein, alsdann er die Geschichte für sich entdeckte, die sie erzählte. So ganz wie im Traume versunken betrachtete er nacheinander die einzelnen Figürchen, sah die Maria andächtig auf ihren Knien sitzen, sah den Joseph mit Stock und Laterne stehn, sah in der Mitte ein weisses, glitzerndes Engelchen im Glanze des Lichts sich zu erkennen geben – und daneben, mit geschlossnen Augen, sah der Bub, wohlbehütet und von Urvertrauen erfüllt, das Christkind friedlich in der Krippe schlafen und des Engelchens Hand halten.

Und der Bub lachte, als er das sah … Ja, als er das sah, da lachte der Bub, und er strahlte, mein liebes Kind, strahlte! – das sag ich dir – wie er schon das ganze Jahr nicht mehr gelacht und gestrahlt hatte!»


Als Agnes die Tür hinter mir geschlossen hatte und ich im Dunkeln auf dem Vorplatz ihres Hauses stand, da überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl.

Wer war diese Familie? fragte ich mich. Und woher kannte meine Freundin sie so gut?

Weshalb, gerade, hatte sie mir diese Geschichte erzählt – fast erzählen müssen, so wie es schien – von all den Geschichten, die sie wohl aus ihrem langen Leben her kennen musste? Wusste sie doch aus unsrem umfangreichen Briefwechsel genau, dass ich weder an Magie noch an Wunder oder an das Übernatürliche glaubte – geschweige denn auch nur in geringster Weise religiös und gläubig war!

Es ging keine fünf Minuten, da bog schon das Taxi um die Ecke und in den Vorplatz ein. Der Taxifahrer öffnete mir die Tür, und ich stieg ins Auto. Ausser meiner Handtasche hatte ich kein weiteres Gepäck dabei.

Dann sagte ich zu dem alten Mann, der neben mir am Steuer sass:

«Zum Flughafen, bitte.»

Doch konnte ich es nicht erwehren, und als wir über die Landstrasse fuhren, da blickte ich seitlich zum Fenster hinaus, und ich sah die Silhouette der alten Tanne vor dem grauen Himmel weit über die Spitze des Hügels hinausragen.

Jetzt geschah es, dass sich vor mir und meinem Herzen ein kleiner Riss in der Welt auftat. Und für einen Moment, für einen kurzen, ja flüchtigen Augenblick nur, glitzerte und zwinkerte mir von der anderen Seite ein heller Kristall entgegen!


mf.

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