Eine Kurzgeschichte von Marco Furgler, entstanden im Januar 2020–Januar 2021.
Wenn man in einem Zug sitzt, wie etwa dem InterCity von St. Gallen nach Genf, so bemerkt man bei genauem Betrachten der Passagiere, dass der Mensch eigentlich nicht zum Reisen gemacht ist.
Neulich beobachtete ich eine seltsame Szene.
Ich sass an einem der grossen Fenster im Restaurantabteil, nippte vorsichtig am heissen Pfefferminztee, der vor mir auf dem weiss gedeckten Tisch gestanden hatte, während ich gleichzeitig versuchte, mich in einen der ersten Maigrets zu vertiefen.
«Entschuldigen Sie!», erklang eine derbe Stimme. Ich schaute von meinem Buch auf. Ein freundliches Handwerkergesicht lächelte von der andern Seite des Tisches zu mir rüber. «Sie trinken gerade meinen Kaffee», sagte der Kerl weiter.
Und in der Tat stand mein Pfefferminztee noch unberührt vor mir auf dem Tisch.
«Ja, was … wie kann denn das … ?» Ich war verwirrt. In einem normalen Restaurant würde so etwas nie geschehen!
Ich spürte, wie mein Kopf rot wurde und wie gleichzeitig sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Offenbar hatten wir irgendwo einen Zwischenhalt gemacht, und Leute waren aus- und eingestiegen.
«Verzeihen Sie bitte», sagte ich. «Selbstverständlich werde ich Ihnen diesen Kaffee bezahlen, damit Sie sich einen neuen bestellen können.»
Da aber erhob sich der mit dem Handwerkergesicht, grinste ein wenig schräg und stand nun plötzlich neben mir. Seine Kaffeetasse hielt ich noch immer mit meinen zittrigen Fingern fest.
Nun griff der Mann nach seiner Tasse und er nahm sie mir aus der Hand.
«Hm», meinte er bloss. «Machen Sie sich keine Umstände. Ich muss sowieso gleich wieder aussteigen», und so kippte er sich den heissen Kaffee in einem Schluck runter.
Na so was?, dachte ich. Auch schon hielt der Zug wieder an und der Fremde verabschiedete sich von mir, indem er mir seine warme Hand auf mein Schulterblatt legte. Beim Verlassen des Abteils übergab er dem Kellner ein paar Münzen.
Unterdessen war mein Tee etwas abgekühlt. Ich trank einen Schluck, stellte die Tasse ab und vertiefte mich wieder in den Maigret.
«Verzeihen Sie, ist hier noch frei?»
Ich ignorierte die Frau und hielt mein Buch noch näher an mein Gesicht. Ich tat so, als verstünde ich kein Deutsch.
«Entschuldigung, ist bei Ihnen noch ein Platz frei?», sagte sie, diesmal jedoch zu einem der andern Fahrgäste.
«Selbstverständlich!», sagte die andere Person.
Die Frau schob den Stuhl zurück – übrigens sah ich nichts, ich hörte nur beiläufig zu – und setzte sich zu dem Typen an den Tisch.
«Kennen wir uns nicht von irgendwoher?», fragte dieser jetzt höflich.
«Das mag schon sein», antwortete die Frau, «das müsste allerdings schon lange her sein… lassen Sie mich kurz nachdenken.»
Nun war es einen Moment lang still. Ich vernahm die Vibrationen des Zuges und hörte ein paar Gläser klirren.
«Möchten Sie gerne etwas zu trinken?», fragte der Kellner die Neueingestiegene.
«Ja, ein Gipfeli und einen Alpenkräutertee, bitte – – mit viel Milch!»
«Jetzt weiss ich es wieder!», rief ihr Tischnachbar. «Sie sind auch jeden Morgen in diesem Zug, in diesem Abteil, nicht wahr?»
«Ja, genau. Sie also ebenfalls?»
«Ihr Alpenkräutertee mit viel Milch hat Sie verraten. Kenne niemanden, der so was trinkt.»
Die beiden lachten.
«Und ich dachte schon», sagte sie, «wir würden uns von früher kennen, aus der Schulzeit oder so!»
«Ja, das hatte ich zuerst auch geglaubt!»
Und wieder lachten sie.
«Da kommen einem manchmal Leute, die man kaum kennt und nur ein-, zweimal in seinem Leben gesehen hat – oder auch noch gar nie –, vertrauter vor als ein Mensch, mit dem man mehrere Jahre lang zusammen die Schulbank gedrückt oder den man jeden Tag bei der Arbeit gesehen hat.»
«Genau, geht mir manchmal nicht anders.»
Und so, auf diese Art und Weise, plauderten die beiden die ganze Fahrt lang fort, schienen sich mehr und mehr anzufreunden und pflegten dabei einen Umgang wie zwei Altbekannte.
Kurz bevor ich in Zürich ausstieg, klappte ich meinen Maigret zu. Das Lesezeichen befand sich nach wie vor auf der ersten Seite.
Es regnete und ich öffnete den Schirm.
Da war etwas. Etwas glaubte ich im Zug vergessen zu haben, doch ich konnte mich nicht entsinnen, was es war. Mein Buch, meine Tasche und den Schirm hatte ich ja dabei.
«Mist!», rief ich aus. Schnell rannte ich durch die grosse Bahnhofshalle zurück zum Gleis, wo ich ausgestiegen war, und ich drückte den Knopf neben der Tür zum Restaurantabteil.
Doch die Türe wollte sich nicht mehr öffnen lassen.
Als ich wieder draussen im Regen stand, fiel mir unter den Fussgängern, die in einem Gewirr von Menschen und im Gehetz den Fussgängerstreifen überquerten, ein Mann in meinem Alter auf, der mir von der anderen Seite entgegenlief. Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Er trug einen eleganten Anzug, in der einen Hand einen grossen dunkelblauen Regenschirm mit edlem Holzgriff, in der andern eine braune Lederaktentasche.
Kurz bevor wir auf derselben Höhe standen, begann ich, langsameren Schrittes zu gehen. Ich sah ihn an und wollte ihn schon beinahe am Arm festhalten. Aber es war nicht er, den ich vermutet hatte – nicht mein bester Freund aus dem Studium.
Das Interessanteste an diesem Gesicht war allerdings, dass es dem Gesicht des Handwerkers, von dessen Kaffee ich unberechtigterweise genippt hatte und der mir dafür nicht im Geringsten böse schien, zum Verwechseln ähnlich sah.
mf.